Tradition als Lehrmeisterin: Die Lehre der Sainte-Victoire (1980)

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In Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) will der Ich-Erzähler, angeleitet durch die Bilder der Montagne Sainte-Victoire von Paul Cézanne, ein »literarisches Bild« des Berges schaffen; dafür muss er sich der poetischen Mittel klar werden. Die Lehre ist eine theoretische Präzisierung der Wahrnehmungs- und Erzählformen und zugleich ihre praktische Umsetzung. Lehrmeister sind die literarische und künstlerische Tradition sowie die Landschaft, ihre Farben und Formen. Dabei geht es nicht um eine mimetische Abbildung, sondern um das Erzählen der eigenen Wahrnehmung und Fantasie der Landschaft – so abstrahiert (und trotzdem konkret), dass eine bei anderen Künstlern vorgeformte (mythische) Grunderfahrung deutlich wird. Cézanne nannte das für seinen Bereich äquivalente Vorgehen »réalisation«.

Wie Cézanne bricht der Erzähler auf zum »Motiv«: Er fährt nach Aix-en-Provence und nähert sich dem Berg von verschiedenen Seiten – unter anderem auf der Route Paul Cézanne. Auf einer Landkarte sind die von Handke für seine Recherche gegangenen und später beschriebenen Wege eingezeichnet. Auf einer anderen Karte findet man unterwegs gemachte Notizen. Eine dieser Wanderungen unternahm Handke zusammen mit »D.« (Domenika), einer »Textilkünstlerin«. Ihr aus verschiedenen Stoffen zusammengesetzter »Mantel der Mäntel« (ein Symbol für die Erzählung) und ihre Art, die geeigneten »Verknüpfungen« (Übergänge) zu finden, wurde Vorbild für den Erzähler auf der Suche nach dem »Zusammenhang« (DLS 103ff.).

Die vorhandenen Werkmaterialien zeigen die für Handkes »Schreibmaschinenzeit« typische Arbeitsweise: das Erstellen einer einzeilig, eng bis an den Rand getippten Urfassung mit genauer Datierung des jeweiligen Tagespensums und die beim Erarbeiten einer zweiten, zweizeiligen Reinschrift entstandenen »Abfallblätter« – das sind Seiten, die von Handke noch einmal neu geschrieben und deshalb ausgesondert oder auch weggeworfen wurden. (kp)

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