Der Bildverlust; Das stumme Stück

Notizbuch, 237 Seiten, 09.02.1990 bis 01.07.1990

Druckversion

Beschreibung

Am vorderen Vorsatz sind griechische Textstellen eingetragen; Weiters Handkes Adresse beim Suhrkamp Verlag, zahlreiche Ortsangaben, die Datierung des Notizbuchs und die Titeleinträge; 
Der hintere Vorsatz mit notierten Reisezeiten, Telefonnummern, Namen, Adressen und Unterkünften erstreckt sich auf 6 Seiten und eine Seite, die sich mit den Notizbucheinrägen überschneidet; 
Sehr häufig setzt Handke in diesem Notizbuch das Kürzel »BV« als Markierung für Notizen zu Der Bildverlust ein.

spet: naslov Suhrkamp

grski bibelcitati

+reiseroute: se konca v Parizu!

polno bibellektüre in grskih citatov ! biblije

tudi tu: vec kuli kot svincnik (vedno samo vereinzelt)

9.Februar 1990 (München, H.'s Geburtstag)

Beim Lesen des Evangeliums: Jesus, der göttliche Wahnsinnige

17.Febr. 1990 (Fr., Sonne, die Nacht...)

BV+BIBELLEKTÜRE+ OD TU ENKRAT OSTANE V PARIZU (pa 19.Mai v Ö)

4.März 1990 (rue Bastien-Lepage, Sonntag, noch keine Wolke)

"Ungeduldig erwartete er die Müdigkeit" (Le Mouton Blanc, Nacht)

10.März 1990 (Aut., nach dem Haus von Chaville)

"Gestern war ich ruhig. Gestern habe ich gut gespielt" (nach dem Anschaun des Hauses in Chaville)

1.April 1990 (Sonntag, der grüne Hof mit Kastanie, der meteorologischen Anstalt, Sonne)

"Only rarely did he feel as he used to when he worked at night, that fatigue stimulated his imagination" (Beauty and Sadness)

9.April 1990

Das Wunderwerk der Kirche [] ein Ornament, die Wärme der Farben der Steine, quelle Maleeur des coleurs, a envie se chauffer (J.) (Ste. Leocadie, und die langen schmalen Grabhügel mit einem Schieferpalast drin, und vielen Schriftsplittern, Badlandgräber

ZEICHNUNG! VERÄSTELUNGEN EINES BAUMES? pa desno ob robu:

Léocadie

was für ein schöner Name für ein Kind und eine Frau

18.April 1990

Bei G. Hauptmann gibt es, in dem Stück "Christiane Laurenz" ein Mädchen namens "Leocadie"; bei dem Namen Leocadie lebte in ihm die Liebe auf

24.April 1990 (Paris, Nebelsonne, Place du théâtre de l'Atelier, die wogenden Linden) Die Träume von der Müdigkeit, Träume des Untergehens: wie heute, als ich, als ein anderer, eine Wasserfläche gar nicht tief, in meiner Müdigkeit durchqueren sollte, und dabei aus dem anderen ich, ich selbst, der Todmüde wurde, ich war dabei, mich fallen zu lassen, "die Knie gehen nach", der Kopf ging unters Wasser vor Erschöpfung [...]

1.Mai 1990 (Martyr, Sonne, Nacht wo die zwei älteren Frauen in einer Bar der rue des M. Geburtstag feierten, eine aus Villach in K.)

Manchmal, im Erzählen, wenn ich etwas weglasse, mag es auch eine Bedeutung gehabt haben, tue ich das nicht, um es zu verschweigen, sondern weil es nicht in die Erzählung gehört (des Tages, des Abends, der Nacht; und weil es auch dem, der der Erzählung zuhört, nicht zugemutet werden soll)

9.Mai 1990 (rue des M.)

Laß die Dinge tun (die Schuhe, das Hemd, den Bleistift) [auf dem Gehsteig der Tabac der rue des M.]

10.Mai 1990 (rue des M., Vollmond, Regen, Trauer)

Die Folge, wie es zum letzten Satz von Kafkas "Prozeß" kam: a) "Sein letztes Lebensgefühl war Scham" b) "Bis ins letzte Sterben blieb ihm die Scham nicht erspart" c) "Es war, als sollte ..."

11.Mai 1990 (rue des M., nach den Stunden in der Lichtung der Fontaine Ste-Marie, " I need you", das Rauschen der Linden, die fallenden Kastanienblüten, "I disturb everybody", die Tränen)

Sos tage Ô ma douleur, et tiens toi L lus tranquille. Tu se' elamais le soir il descend le voici. (J.M., 10.5. , am Abend in der Küche, Ingwer und Knoblauch)

19.Mai 1990 (Wien, Rudolfsplatz)

23.Mai 1990 (P., Sonne)

Die Stufen des epischen Blicks: Was? / Wo? / Wie? / Wann? / Was für ein? (Bd. Raspail)

6.Juni 1990 (Arcueil, Sonne nach Regen)

"mine own", sagt Hermione zu ihrer wiedergefundenen Perdita (heute nachmittag habe ich die Übersetzung von "A Winter's Tale" beendet, draußen im Garten, am Haus auf dem Boden sitzend, rue Victor Basch, bei schwacher Sonne)

7.Juni 1990 (Arcueil, großer Regen, langer Schlaf)

Bildverlust = Staunensverlust?

(Ave Reille, Paris 14, die Festungstempel aus Glas, auf dem Festungswall? Cumberland-Bleistift 7, nein, "Reservoir de Montsouris)

10.Jun 1990 (Arcueil, Sonntag, Sonne [...])

"Er ließ sich den Ort [im Gehen] durch die gespreizten Finger wehen" (Arc., später Sonntagvormittag)

Verdammte Müdigkeit deiner Augen! (rue de Buci)

11.Juni 1990 (rue Maz.)

Die Zärtlichkeit mit den Augen und die Z. aus der Ferne ("der Bleistift von Arcueil")

12.Juni 1990 (rue Maz., die Taubenjungen am Fenster)

Zum schreiben bedenkenlos werden, mir in den Rhythmus geraten, ins Takt angeben, und dein dann "bedenkenlos" folgen (V.B.)

x Übersetzen: im Zentrum des Geschehens; Schreiben: am Rand, mit dem fortwährenden Versuch, sich einem ungewissen Zentrum zu nähern

13.Juni 1990 (Arc., Garten, das erste Himmelsblau, hier und dort oben, wie seit langem) Fieberträume im Herzen selber wütend, nachtlang, zugleich Stürme der Verlorenheit und diese Verlorenheit dem Herzen ausbrennend, fürs erste

 

Die Zufriedenheit beim Schreiben: monumental; die Unzufriedenheit beim Schreiben: monumental (gestern; und dann das Zwielicht und der Pöbel im Parc Montsouris, trotzdem die Augenblicke der Märchenhaftigkeit bei den verdämmernden Kastanien und dem Glanz der aufgelassenen Schienen unten in der Senke)

 

Gedicht von Paul Wühr

Arm

Wo wir uns erschüttern beide

Arm in Arm

ist es gestern

wie wir einschlafen wachen wir

im Gesicht auf

morgen

ist es einen Tor her daß

ich dich anschaue

heute

als ob du mich sehen könntest

Paul Wühr

nie vergessend, was sie für mich getan haben Siena 16.Juni 90                       

+ getrocknete Blätter + POLAROID FOTO!

22.Juni 1990 (Kronberg)

Keine Zeit, keine Einbildungskraft (und wie das Ornamentknüpfen des Schreibens mich episodisch anschließt an die Welt; und gestern die Lindenblüten auf dem romanischen Steinthron, Guggenheim)

1.Juli 1990 (rue de'l Un.)

"Two thousand lightyears from home" (letzter eintrag)

potem: Spet abfahrtszeiten, tel. nummer

Werkbezüge

Die Stunde da wir nichts voneinander wußten

Das Notizbuch mit Peter Handkes Aufzeichnungen aus dem Zeitraum von 9. Februar bis 1. Juli 1990 umfasst 237 unpaginierte Seiten. Es ist chronologisch betrachtet das derzeit letzte öffentlich zugängliche Notizbuch des Autors und auch das letzte, aus dem er Teile veröffentlicht hat; im Journal Gestern unterwegs (2005) bilden die aus diesem Notizbuch übernommenen Einträge den Schluss (G 515-553). Das Notizbuch wurde von Handke am vorderen Vorsatz dem Schreibprojekt »Die Stunde da wir nichts voneinander wußten« zugeordnet, das zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht den bekannten Titel hatte und von Handke nur »Das stumme Stück« genannt wurde. Da die Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich von diesem Notizbuch keine Kopie verzeichnet, konnte es für Handkeonline noch nicht genauer untersucht werden. Es ist anzunehmen, dass es etliche Stückspuren enthält, die nicht ins Journal übernommen worden sind.

Die ins Journal aufgenommenen Einträge zeigen eine intensive Lektüre des Neuen Testaments, vor allem der Evangelien (G 516ff.), was für die Entstehung der mythischen Bilder im Stück relevant sein könnte. Die Einträge dokumentieren darüber hinaus Handkes Korrektur der Druckfahnen von Versuch über die Jukebox (G 518) im Februar 1990 und den Beginn der Übersetzung von Shakespeares A Winter's Tale (G 538) im April 1990. Dem Stück ist (im Journal zumindest) keine einzige Aufzeichnung zugewiesen, die meisten Notizen ordnete Handke seinem Schreibprojekt »Der Bildverlust« zu. Nur ein längeres Notat lässt an das stumme Schauspiel Die Stunde da wir nichts voneinander wußten denken. Darin notierte Handke, während er auf einer Caféterrasse auf jemanden wartete, seine sich im Verlauf des Beobachtens mit Fantasien vermischenden Betrachtungen von Passanten und Café-Gästen: »Gestern: Die Stunde vor ihr, die Stunde, bevor sie kam: Auf der Caféterrasse das Rütteln der Stühle im Wind; das Weiß des Rinnsteinwasserfalls als Farbe des Augenblicks und des Wartens auf sie; der tief schwarze Schatten eines weißen Blindenstocks vorbeiwandernd am Gehsteig; die im Vorbeigehen mit rollenden Schultern und aufgelösten Schuhbändern einen Apfel Essende, und mein Gebet zur Mutter als Beistand, und ihre Antwort: "Me meteorize!", Sei nicht unruhig! Und so lange wartete ich auf sie – und wurde für einmal ruhig im Warten –, bis sich das "Gesellschaftwerden" in der Sonne auf der Terrasse einstellte, die Gesellschaft mit den Lebenden und den Toten, den Vorbeigehenden und den Mitsitzern, den Vergangenen und den Zukünftigen, den Abwesenden und den Anwesenden, den Leuten und den Dingen wie dem Kompaß zwischen den Strickmustern NORD-SUD auf den Socken des Nebenmanns, der Mitsichselbersprecherin zur anderen Hand, unter der riesigen blauen Wollhaube, die sie in der Sonne abnahm, sprechend weiter in das Weltall hinein, unverständlich, Gesellschaftwerden mit den Glanzrändern des Rinnsteinbachs und dem Großvater, in sich hineinmurrend, verirrt in die fremde Weltstadt (23. März 1990)« (G 534ff.). (kp)

Siglenverzeichnis

Versuch über die Jukebox

»Schreiben: Sich hineinbegeben in die Enge und herauskommen mit der Weite (17. Februar, Lesen der Fahnen zur "Jukebox")« (G 518)

17.Febr. 1990 (Fr., Sonne, die Nacht...)
Schreiben: Sich hineinbegeben in die Enge und herauskommen mit der Weite (Klettenbergstrs., Nachmittag, nach dem Lesen der Fahnen des VüdJ)

»Eine Baguette lag auf der Jukebox, die ein deutsches Fabrikat war. [...] (8.-26. Juni)« (G 549)

Gestern unterwegs

Der Eintragungszeitraum des Notizbuchs entspricht den Seiten 515-553 in Gestern unterwegs. (ck)

Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorsatzblatt): 

Der Bildverlust; Das stumme Stück

Zusätzlich eingetragene Werktitel:  [nicht erfasst]
Entstehungsdatum (laut Vorlage):  9. Februar 1990 - 1. Juli 1990; [nicht vollständig erfasst]
Datum normiert:  09.02.1990 bis 01.07.1990
Entstehungsorte (laut Vorsatzblatt): 

München, Frankfurt (etc.), Köln, Aachen, Lüttich, Tournai, Lille, Paris (etc.) (Clamart, Meudon, Issy-les M.), Ille-sur-Têt, Serrabone, Molitg, Prades, St. Michal-de-Cuxa, Taurinya, Col de Milleret, Vernet, Casteil, St. Martin du Canigon, Corneilla, Villefranche, Mont-Louis, Col de la Roche, Llo, Védrignans, Llivia, Enveitg, Ste. Léocadie, Nahuja, Osseja, Palan de Cerdagne, Bourg-Madame, Puigcerdá, Ripoll, Barcelona, Paris, Wien, Salzburg, München, Paris, Biarritz, Paris, Wien, Paris, Arcueil, Cachan, Siena, Florenz, Venedig, Kronberg (Königstein, Steinbach, Frankfurt), Paris, Arcueil, Paris

Zusätzlich eingetragene Entstehungsorte: 

[nicht erfasst]

Materialart und Besitz

Besitz:  Deutsches Literaturarchiv Marbach
Art, Umfang, Anzahl: 

Notizbuch mit schwarzem Umschlag, 237 Seiten, I-III, unpag. 237 Seiten, I*-VI*; von Handke auf Buchrücken geklebter, tw. abgerissener Papierstreifen mit Datierung »[...]uli 90«

Format:  16,3 x 9,6 cm
Schreibstoff:  Fineliner (rot, schwarz, blau, grün), Kugelschreiber (blau), Bleistift
Weitere Beilagen: 

 

  • 1 Polaroidfoto mit der hs. Notiz »12.6.1990 rue Mazarine«, eingelegt beim Eintrag vom 18.6.1990, 1 Blatt
  • getrocknete Pflanzen (am DLA aus konservatorischen Gründen separat abgelegt) befanden sich in den Doppelseiten mit den Einträgen zum 1.4.1990 (Fortsetzung des Eintrags, Incipit des dt. Textes »Weltzeit«), 7.5.1990, 18.6.1990 (Beginn des Eintrags), 19.6.1990 (Beginn des Eintrags) und 24.6.1990

Nachweisbare Lektüren

[nicht erfasst]

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 

[nicht erfasst]

Bemerkungen: 

Eintrag fremder Hand von Paul Wühr am 16.6.1990: Gedicht »Arm«