Phantasien der Wiederholung; Losers Geschichte; Die Schwellen

Notizbuch, 160 Seiten, 18.08.1982 bis 16.12.1982

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ÖLA SPH/LW/W101 Dieses 160 Seiten umfassende, zwischen 18. August und 16. Dezember 1982 entstandene Notizbuch ist die Hauptquelle zur ersten Textfassung von Der Chinese des Schmerzes, die Peter Handke am 12. Oktober 1982 zu schreiben begann. Wie bereits im vorangehenden Notizbuch von April bis August werden darin zahlreiche projektbezogene Einträge mit dem Symbol »« oder auch mit Bezeichnungen wie »L’s. Geschichte« und »L.’s G.« ausgewiesen, von denen hier nur einzelne Beispiele genannt werden.

Überlegungen vor dem Schreibbeginn

Von 18. bis 27. August befand sich Handke in Salzburg. Nur an zwei Schwerpunkttagen, am 18. und 19. August, enthält das Buch Notizen zu Der Chinese des Schmerzes, die vor allem der Charakterisierung seines Protagonisten gewidmet sind. Ab dem Beginn einer Reise am 27. August, die ihn zuerst nach Frankreich (Chartres und weitere Orte in und um Paris), danach nach Italien und über Kärnten zurück führte, entstanden erneut vereinzelte, nicht tägliche Einträge zum Werkprojekt, die eher allgemeine Anmerkungen zur Erzählhaltung enthalten, so z.B. bei Handkes Besuch der Kathedrale von Chartres: »Nimm dir die gewaltige stille Einförmigkeit und Vielfältigkeit der Figuren am Portail Royal vor als Vorbild, als Wegweiser für L.s Geschichte!!« (S. 11) oder am 2. September: »L's Geschichte muß sich ausschließlich aus so gewaltigen wie unanständigen Elementen zusammenfügen« (S. 23). Es folgten punktuelle Einträge zu Der Chinese des Schmerzes am 5. und 10./11. und 14./15. September, die bereits klare Vorstellungen zur Entwicklung des Protagonisten Loser wiedergeben, wie z.B. »jedenfalls: seßhafter Beruf mit vielem tagsüber, Nachmittage und Abende allein! « (S. 33). Nachdem er am 17. September wieder nach Salzburg zurückgekehrt war, begann Handke ab 20. September, täglich Notizen zur Erzählung festzuhalten, die – je näher der Arbeitsbeginn an der ersten Textfassung rückte – zunehmend an der konkreten Handlung orientiert waren, z.B. am 28. September 1982: »Tatmoment in L’s Geschichte« (S. 62) oder der zentrale »Chinesentraum« am 29. September 1982 (S. 64). 

ÖLA SPH/LW/W101 Am 1. Oktober 1982, elf Tage vor dem Beginn der Niederschrift, notierte Handke: »Man muß geschwollen sein von Erzählung (und allmählich bin ich so weit mit L.’s Geschichte – die zwei Warnlichter an der Goiser Kirchturmspitze)« (S. 67). Nachdem er am 8. Oktober von einem Wienbesuch nach Salzburg zurückkehrte, ist eine Zunahme an ausformulierten Erzählpassagen und Sätzen für die Erzählung zu bemerken, der Schreibbeginn stand unmittelbar bevor.

Arbeit an der ersten Fassung

Dass Handke am 12. Oktober mit der Niederschrift begann, geht aus dem Notizbuch nicht direkt hervor. Erkennbar ist, dass ab diesem Datum die Notizen nahezu ausschließlich auf das Projekt konzentriert waren, sowohl inhaltlich in Form von Erzählideen, Ergänzungen und Korrekturen, als auch den eigenen Fortschritt an der Arbeit kommentierend, wie z.B. am 28. Oktober: »Gerade freute ich mich auf jeden Tag bis Weihnachten (ob bis dahin L.’s Geschichte fertig ist?)« (S. 96). Die Notizen vom 28. Oktober 1982 enthalten auch erste mit »Korr.« versehene Überarbeitungen für den bis zu diesem Datum geschriebenen Text. Die Anmerkungen beziehen sich weiters auf zentrale Elemente, etwa die Präzisierung des »Tatmoments«: »Totschlag findet statt vor dem Tarockspiel, auf einem Umweg (L. ist zu früh dran)« (S. 96) oder zur Konstruktion der Metaerzählung: »im Café: unauffällig der gelbe Bleistift auf dem Tisch (L. als sein Autor!) [...] der gelbe Bleistift wird immer auftauchen« (S. 97). Zur Wiedergabe der erzählten Zeit notierte Handke am 31. Oktober: »Erst nach dem Totschlag beginnt die Schilderung des Morgens, des Mittags, des Tags (bis dahin war immer nur Abend und Nacht)« (S. 102).

ÖLA SPH/LW/W101 Wie als Begleitkommentar zur Arbeit an der ersten Textfassung enthält das Notizbuch Überlegungen zur genaueren Ausgestaltung der Erzählung, so etwa am 3. November: »L.’s Geschichte: im Fortgang den Mittelgrund verstärken [...] + nunc-stans-Momente, unauffällig« (S. 107). Am 8. November notierte Handke eine Idee zur Selbstreferenz: »Der "Gastgeber", "Hausherr" beim Kartenspiel werde ich sein (Parodie!) [Maler / Priester / Politiker / Loser / Hausherr [...]« (S. 115). Die Chronologie der Notizen entspricht etwa der Chronologie der Erzählung, ein Beleg für ein den Schreibprozess »begleitendes Notieren«: So scheint der Figurenname »Tilia« erst spät, am 27. November, erstmals auf (S. 136), und zum Epilog des Buches hielt er erst am 5. Dezember fest: »Letztes kurzes Kapitel (Epilog): Die Weltzeit« (S. 148). Bis zum ersten (vorläufigen) Ende seiner Arbeit an der Erstfassung am 18. Dezember traten im Notizbuch Abkürzungen wie »Anf.« (= anfügen), »K« (= Korrektur), »Korr.«, »E« (= Einfügung/Ergänzung) stark in den Vordergrund.

Titel und Kapitel

Zur Titelfindung, die sich nahezu über den gesamten Entstehungszeitraum der ersten Fassung erstreckt, überlegte Handke neben den anfänglichen Bezeichnungen »L.'s Geschichte« oder »Losers Geschichte« am 29. Oktober erstmals eine neue Variante: »Ein anderer Titel für L.’s Geschichte: Der Betrachter greift ein« (S. 98). Am 3. November folgt die nächste Notiz mit Bezugnahme auf den (späteren) Titel, ohne diesen als solchen in Betracht zu ziehen: »Der Chinese des Schmerzes hockt im Türspalt (er mußte sich hinhocken)« (S. 107). Zur Kapitelstruktur überlegte er am 19. November: »4 Kapitel v. L.’s Geschichte: Der Betrachter wird abgelenkt / Der Betrachter greift ein / (4) Der Betrachter betrachtet / (3) Der Betrachter wird betrachtet« (S. 126); eine weitere Titelidee präzisierte am 23. November: »Das Mädchen vom Flughafen sagt zu L.: "Sie sehen aus wie der Chinese des Schmerzes" [Der Chinese des Schmerzes – Untertitel: Losers Geschichte]« (S. 131). Den alternativen Titel »Die Schwellengeschichte« überlegte Handke am 1. und 3. Dezember, als das Ende der Arbeit an der ersten Fassung sich bereits abzeichnete: »Ja, L.’s Geschichte soll DIE SCHWELLENGESCHICHTE heißen! (und jetzt muß ich die nächsten 20 Tage nur noch bei Kräften bleiben...)« (S. 142). Dessen ungeachtet fiel Handkes Wahl zuletzt auf »Der Chinese des Schmerzes«.

Lektürenotizen

Vom 18. August bis zum Schreibbeginn der ersten Textfassung am 12. Oktober notierte Handke regelmäßig Lektürezitate, vorwiegend aus verschiedenen Büchern der Bibel, insbesondere dem Buch Jesaja. Zusätzlich werden weitere Werke oder Autoren vereinzelt zitiert (siehe tabellarische Daten). Während der konzentrierten Schreibphase sind Notizen zu Lektüren kaum mehr zu finden.

Zeichnungen

Das Notizbuch enthält drei kleine Skizzen am 21. November (S. 127) sowie am 1. (S. 139) und 3. Dezember (S. 146), die der Verdeutlichung des Beschriebenen (der »Untersbergabfall«, ein nach oben gestreckter Daumen, ein »Tautropfenrinnsal«) dienen. Für die Werkentstehung aufschlussreich ist jedoch vielmehr eine Notiz, ebenfalls am 3. Dezember, in der Handke seine Idee für den Buchumschlag festhielt, die den »Tatmoment« der Erzählhandlung darstellen sollte: »Zeichnung wie David und Goliath, David mit Schleuder, Goliath fallend (A. soll zeichnen)«. Eine an diese Überlegung anknüpfende Coverzeichnung – zwei Beine, neben denen ein Stein auf dem Boden liegt – wurde am Umschlag der Erstausgabe umgesetzt. (ck)

Siglenverzeichnis Editorische Zeichen Forschungsbeitrag

Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorlage): 

Phantasien der Wiederholung; (ab 12.10.82) Losers Geschichte (Der Chinese des Schmerzes); Die Schwellen (Versuch über die Schwellen) [Bl. I]

Zusätzlich eingetragene Werktitel:  [nicht erfasst]
Entstehungsdatum (laut Vorlage):  18. August 1982 [bis] 16. Dez. 1982; [nicht vollständig erfasst]
Datum normiert:  18.08.1982 bis 16.12.1982
Entstehungsorte (laut Vorlage): 

Salzburg [Bl. I]

Zusätzlich eingetragene Entstehungsorte: 

Salzburg [18.8.1982]; Fuschler Ache [19.8.1982]; Anif [24.8.1982]; Liefering [25.8.1982]; Paris [27.8.1982]; Chartres [27.8.1982]; Étampes Ormoy-la-Rivière (Valée de la Juine) [28.8.1982]; Boissy-la-Rivière [28.8.1982]; Chantilly (Musée Condé) [29.8.1982]; St. Julien-le-Pauvre (Paris) [30.8.1982]; St. Vincent de Paul (Paris) [31.8.1982]; Gare du Nord (Abfahrt nach Laon) [31.8.1982]; Villers-Cotterêts [31.8.1982]; Laon (Kathedrale) [31.8.1982]; Fontaine Sainte-Marie [1.9.1982]; Étretat [3.9.1982]; Charles de Gaulle Airport [5.9.1982]; Venedig [6.9.1982]; San Giorgio [6.9.1982]; Giudecca [7.9.1982]; Biennale di Venezia [7.9.1982]; Treviso [7.9.1982]; Venedig [10.9.1982]; Padua [10.9.1982]; Mestre [10.9.1982]; Bahnhof Warmbad Villach [11.9.1982]; back home [12.9.1982]; Tainach [13.9.1982]; Tscherberg [13.9.1982]; Rinkolach Edling [13.9.1982]; Humtschach [14.9.1982]; Hemmaberg [14.9.1982]; Stift Griffen [15.9.1982]; Mölltal [15.9.1982]; Schwarzach-St. Veit [15.9.1982]; Spittal a. d. Drau [15.9.1982, notiert am 16.9.1982]; wieder in S. [Salzburg, 17.9.1982]; Anif [23.9.1982, notiert am 24.9.1982]; Gois [24.9.1982]; Siezenheim [25.9.1982]; Wals [25.9.1982]; Viehausen [28.9.1982, notiert am 29.9.1982]; Biel [5.10.1982]; Wien-Schwechat; Wien, Kärntner-Str. [5.10.1982]; [6.10.1982]; Grinzing; Grinzinger Steig [6.10.1982]; Weidling [6.10.1982]; Klosterneuburg [6.10.1982]; Innenstadt, Akademiestraße [6.10.1982]; Wien-Mauer, Rodaun [7.10.1982]; Linz "Zur Lokomotive" [7.10.1982]; Flughafen, Walserfeld [8.10.1982]; Walserfeld [9.10.1982]; Mbg. [Mönchsberg, 9.10.1982]; Loig [10.10.1982]; Gois [11.10.1982]; Maria Plain [13.10.1982]; Mbg. [14.10.1982]; Wals [16.10.1982]; S.; Walserfeld; Aiglhof [16.10.1982]; Mbg. 17c [19.10.1982]; Hallein [1.11.1982]; Tamsweg [3.12.1982]; [nicht vollständig erfasst]

Materialart und Besitz

Besitz 1:  Deutsches Literaturarchiv Marbach
Art, Umfang, Anzahl: 

Notizbuch mit schwarzbraunem Einband, unliniert, 160 Seiten, I-III, pag. 1-160, I*-III*

Format:  10,5 x 14,6 cm
Schreibstoff:  Bleistift, Kugelschreiber (blau), Fineliner (rot, schwarz, dunkelblau)
Weitere Beilagen: 

 

  • getrocknete Pflanzen (am DLA aus konservatorischen Gründen gesondert abgelegt) zwischen S. 34/35 und S. 80/81

Nachweisbare Lektüren

[Lektürenotizen oder -zitate in der Reihenfolge der frühesten Eintragung im Notizbuch. Wiederholte Lektürespuren sind nicht vollständig erfasst.]

  • Bibel (kontinuierliche Lektüreeinträge ab 18.8.1982, immer während der Aufenthalte in Salzburg): Buch der Sprichwörter, Buch Johannes, Offenbarung, Psalmen, Ezechiel und insbesondere Jesaja (Buch Jesaja regelmäßig ab 22.8.1982 bis Anfang Oktober 1982); z.T. zitiert n. Text der Lutherbibel von 1545
  • Walter Benjamin (22.8.1982)
  • Francis Ponge: Pour un malherbe (4.9.1982ff.)
  • Magi{st}er: Sprichwörtersammlung
  • Rudolf Steiner: Die Schwelle der geistigen Welt (6.10.1982)
  • Martin Heidegger: Nietzsche (24.10.1982)
  • Tao-Te-King (24.10.1982, »gibt mir viel Mut zu L.’s Geschichte«)
  • Simone Weil
  • Theokrit: Die Zauberinnen

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 

 

  • geschwungene Doppellinie (24.9.1982, S. 54)
  • gekreuzte Linien (24.9.1982, S. 56)
  • eine kleine, aus wenigen Strichen erstellte Skizze zur Andeutung eines Berghangs neben der Notiz »Untersbergerfall: Klondikepass [...] dagegen die viel sanftere Steiglinie am linken Gaisberg [...]« (21.11.1982, S. 127)
  • eine in den Text gezeichnete Hand mit nach oben gestrecktem Daumen mit der Notiz »Siegeszeichen mit dem bloßen Daumen« (1.12.1982)
  • Skizze eines »Tautropfenrinnsal[s]« in Form mehrerer kleiner Kreise in der Textzeile (3.12.1982)
  • zum Umschlag von Der Chinese des Schmerzes vermerkte Handke: »Zeichnung wie David und Goliath, David mit Schleuder, Goliath fallend (A. soll zeichnen)« (3.12.1982, S. 144)