Ins tiefe Österreich

Notizbuch, 96 Seiten, 05.07.1976 bis 21.07.1976

Druckversion

Beschreibung

Dieses hellrote Notizbuch mit der Aufschrift »NOTES« enthält Peter Handkes Aufzeichnungen aus dem Zeitraum von 5. bis 21. Juli 1976. Es hat einen Umfang von 96 linierten Seiten, die durchgehend von 1-97 paginiert wurden. Das vordere Vorsatz besteht aus drei unpaginierten Seiten: Die erste Vorsatzseite ist unbeschrieben (S. I), die zweite enthält Handkes Datierung der Notizen »5.7.-21.7. 1976« (S. II) und die dritte ist mit seiner Adresse und Telefonnummer beim Residenz Verlag in Salzburg versehen. Unter der Adresse notierte Handke den Titel seines Schreibprojekts »Ins tiefe Österreich« (S. III). Das hintere Vorsatz zählt ebenfalls drei Seiten, wobei die ersten beiden keine Seitenzahlen aufweisen (S. I*-II*) und die letzte mit 97 paginiert ist; auf diesen Seiten findet man rund um Adressen und Telefonnummern geschriebene Notizen.

Reisen

Das Notizbuch entstand während der ersten Etappe einer fast zweimonatigen Österreichreise, die Handke am 20. Juni 1976 (einen Tag vor seinem Auszug aus der Pariser Wohnung am Boulevard Montmorency) Siegfried Unseld in einem Brief ankündigte. Er gab bekannt, bis »Anfang September [...] keine Adresse [zu haben]: alle Post [solle] an den Residenz Verlag gehen, weil [er sich] irgendwo in Österreich herumtreiben werde ab 2.7.« (Handke / Unseld 2012, S. 308) Die erste Reiseetappe führte von Kärnten ins Mühl- und Waldviertel, weiter nach Wien und ins Salzburger Land. Die Reise wird dabei nicht nur in den Notizen beschrieben, sie ist auch durch eine in der Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek erhaltene Fotoserie dokumentiert. (ÖLA SPH/LW/S104 und S106) Die Fotos geben zum Teil über die Notizbucheinträge hinausgehende Informationen zur Reiseroute, die sich dennoch nur ungefähr rekonstruieren lässt.

Handke kam am 3. Juli 1976 aus dem Friaul nach Velden in Kärnten (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 006, S. 94) und nahm zwei Tage später den Zug Richtung Salzburg. Mit seinem Aufbruch aus Kärnten am 5. Juli beginnen die Aufzeichnungen im vorliegenden Notizbuch. In Salzburg (oder einem anderen Ort auf dieser Strecke) dürfte Handke einen Zwischenstopp gemacht haben, denn er fuhr erst am 6. Juli weiter über Linz (S. 5) nach Freistadt im Mühlviertel (S. 6), wo er übernachtete. Am 7. Juli reiste er vom Bahnhof Freistadt mit dem Zug nach Kefermarkt, wo er den Kefermarkter Altar besichtigte (S. 17-18). Von dort ging er noch am selben Tag zu Fuß bis nach Sandl, dessen Gemeindegebiet an den Ausläufern des Böhmischen Waldes entlang der Grenze zur heutigen Tschechischen Republik verläuft sowie an der Grenze zwischen Ober- und Niederösterreich. Im Gasthof angekommen notierte er: »18 km in einem gegangen, von 4-8« (S. 21).

Als nächste Reisestationen sind am 8. Juli die Waldviertler Orte Bad Großpertholz (S. 34) und Gmünd (S. 38) eingetragen, wobei Handke, wie man in den Notizen lesen kann, bis nahe an den Eisernen Vorhang, die Grenze zur damaligen Tschechoslowakei (ČSSR), gekommen ist: »Das Willkommensschild der CSSR von der Sonne durchschienen; der Grenzpolizist, der mit seiner Maschinenpistole hin und her geht wie ein Minnesänger« (S. 35). Am nächsten Tag, dem 9. Juli, besuchte er zuerst das Steinmuseum von Gmünd, wo er sich Notizen zu den Ausstellungsobjekten und Steinarten machte (S. 42-44), stieg dann in die Schmalspurbahn nach Groß Gerungs (S. 46) und ging von dort vermutlich wieder zu Fuß weiter bis in die Stadt Zwettl (S. 52), die allerdings in den Notizen namentlich nicht genannt wird. Am folgenden Tag besichtigte er die Stiftskirche Zwettl und wanderte aller Wahrscheinlichkeit nach über Roiten (S. 59) nach Rappottenstein (S. 63). Am 11. Juli könnte er noch eine letzte Strecke von Rapottenstein bis in den kleinen Ort St. Georgen am Walde gegangen sein, der durch ein Foto als Reisestation bestätigt ist und den Handke in den Notizen (allerdings erst nachträglich) erwähnte (S. 79). Abends in einem Gasthof (vermutlich in St. Georgen am Walde) vermerkte Handke in seinem Notizbuch: »Das Shampoo ist in der Flasche geschäumt vom langen Gehen (30 km heute)« (S. 64). Diese Kilometerangabe würde auf die Strecke Rapottenstein – St. Georgen am Walde zutreffen. 

Am 12. Juli nahm Handke morgens den Bus nach Grein (S. 71), von wo er dem befreundeten Schriftsteller Hermann Lenz eine Ansichtskarte vom Kefermarkter Altar mit seinen Reiseplänen nach der »Streunerei durch Ö.« schickte (Handke / Lenz 2006, S. 101). Da er noch mit der Umschlaggestaltung für Die linkshändige Frau beschäftigt war, schrieb er auch einen Brief an Siegfried Unseld, worin er ihm neben seinen Umschlagideen auch von der Reise berichtete: »[S]eit einer Woche gehe ich kreuz + quer durch Österreich und habe, für den Moment, genug von Wäldern, Bächen und lauten Gasthöfen. Heute morgen habe ich die Tennisschuhe, mit denen ich gegangen bin, in den Abfallkorb gesteckt und will jetzt mit dem Schiff die Donau hinunter.« (Handke / Unseld 2012, S. 308) In Grein traf Handke vermutlich das befreundete Ehepaar Greinert (S. 77-79), das ihn auf der Schifffahrt nach Wien (S. 74-77) begleitet haben dürfte. Ob bei dieser Schiffsreise auch ein Aufenthalt im Stift Melk eingeplant war, das in den Notizen erwähnt wird (S. 77), geht aus den Aufzeichnungen nicht hervor, ein in der Fotoserie vorhandenes Bild vom Stift legt jedoch einen Zwischenstopp nahe.

In Wien besichtigte Handke verschiedene Kirchen in der Innenstadt (S. 81-83) sowie das Kunsthistorische Museum (S. 86). Am 15. Juli ging er zu Fuß vom »3. [Bezirk] nach Simmering« (S. 83), weil dort, wie sich aus einer Adressnotiz im vorhergehenden Notizbuch (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 006, S. II) erschließen lässt, sein Bruder Hans arbeitete. Unter dem Datum des 16. Juli ist als nächste Reiseetappe »(Wien Salzburg) \šTamsweg/« (S. 86) vermerkt. In Tamsweg dürfte er (vermutlich mit dem Verlegerehepaar Schaffler) einige Tage auf einer Alm im Gebirge (S. 88-91) verbracht, aber auch jemanden im Krankenhaus besucht haben (S. 93). Während seines Aufenthalts traf er den befreundeten Schriftsteller Gerhard Roth (S. 92, 94).

Landschaftsbeschreibungen

Das Notizbuch versammelt stimmungsvolle Beschreibungen der Landschaft und der Natur im Sommer – der Bäume, des Himmels, der Felder, Teiche und Tiere. »Der Mittag, das Fliegensummen, das {Tellerschichten}, die Kinderstimmen, die besonnten Telegraphendrähte, die hellen Bäuche der Mauersegler über einem, das Gras zittert unter meinem ruhigen Atem, die Wolken, die aus dem tiefen blauen Himmel sich bilden und sich rasch aus diesem Blau vergrößern, verbreiten, sich strecken als ob sie auf einen herunterfielen, näherkommend (das starke Gefühl, daß sie es auf einen abgesehen hätten, ein ewiges Näherkommen – und dann haben sie sich wieder aufgelöst[)]« (S. 13-14), notierte Handke auf dem Weg von Freistadt nach Kefermarkt. Oder in der Nähe eines »schwarz-dunklen Teiches« im Wald nahe der Grenze sah er »ganz vereinzelt hellweiße Birkenstämme zwischen den Fichten [/] Libellen im dunklen Wald [/] Im Teichabfluß eine große Forelle, die aufwärtsspringt, klatschend und schlagend über den Steinen [/] Farne mit waagrecht gestaffelten Zweigen, wie Hochhaussiedlungen« (S. 30f).

Handke bemerkte viele kleine Details, wie seine vom Staub glitzernden Schuhe (S. 59), aber auch seine sich mit dem Gehen verändernde Wahrnehmung: »wie beim Gehen alles eins wurde, wunderbar und erschreckend« (S. 22): »die Lastautos brausten wie Nachtzüge, die Grillen zirpten wie Mopeds hinter Hügeln, das Geräusch, mit dem ein Bauer das Stalltor zuschob war genau wie das Stöhnen von Kühen in einem anderen Stall, Geräusche der Dinge, Tiere und Menschen (Kinderreden im Weizenfeld) waren durcheinander, einerlei, je länger ich ging« (S. 23). Viele dieser Reisenotizen halten eine Abfolge oder Gleichzeitigkeit von Geschehnissen fest oder beschreiben Ähnlichkeiten verschiedener Bewusstseinseindrücke, indem sie beispielsweise die Geräusche der Natur mit Geräuschen der Zivilisation vergleichen, um die Empfindung möglichst exakt zu charakterisieren: »das Aufrauschen eines Kastanienbaumes ist wie ein sich näherndes Auto, und das Wipfelrauschen der Fichten wie vorbeifließender Verkehr + Kuckucksschreie und Krähenschreie« (S. 32) oder: »der Hahnenschrei auf dem Feld wie ein herzzerreißender Aufschrei einer Frau« (S. 48). Dazwischen ist es wiederum so still, dass man nur »das Summen der Insekten« (S. 48) hört oder das »Sieden der Roggenhalme« (S. 32), das »Rascheln des Hafers, das Raspeln (?) der Gerste (Schwirren, trockenes, fast ein Geklapper, und zugleich ein Geknister vom Reifsein)« (S. 47).

Die Reise durch das Waldviertel erinnert an spätere Wanderungen durch den slowenischen Karst. Auf seinen Wegen begegnete er manchmal stundenlang keinem Menschen: »Alles ist gemacht, bearbeitet – aber niemand ist zu sehen (wie in USA, und wie in Märchenhäusern, wo die Suppe auf dem Herd kocht etc., ohne daß jm. zu sehen ist!)« (S. 31). Das Land scheint geradezu friedlich und geschichtslos: »Ich fiel nicht auf, es war Friede« (S. 6) notierte Handke, oder: »Im Niemandsland: außer den zwei lichten Streifen im Sandweg deutet nichts auf eine Zeit oder Geschichte hin, kein Geräusch, kein Bild« (S. 31).

Beschreibungen der Dörfer

Ästhetisch wie soziologisch eindrucksvoll sind auch Handkes Beschreibungen der kleinen österreichischen Ortschaften nahe der Grenze zum Eisernen Vorhang, seine genauen Beobachtungen der ländlichen Bevölkerung, die ihm »nicht unfreundlich, aber unfähig zur Freundlichkeit« (S. 33) erschien, und der Stimmung in den Dörfern: den Gasthöfen, mit ihren Zimmern und den Wirtshäusern, mit den Turn-, Schach- und Schützenvereinen (S. 10f.), den neugierigen, vors Haus tretenden und schauenden Dorfbewohnern (S. 16), den Frauen mit ihren gestopften Strümpfen (S. 46), die in den Häusern, in den Ställen, auf den Feldern (S. 36ff.) arbeiten und den ruhigen, nicht spielenden Kindern (S. 37), den flimmernden Fernsehern abends in den Häusern (S. 38), den Radiohörspielen aus den offenen Fenstern (S. 38), den zugezogenen Vorhängen abends, weil »draußen eh nichts mehr los« ist (S. 38), den Sommerzeltfesten (S. 13), mit Kameradschaftsbund-Fackelzug, Autosegnung, Fahnen und Fackelschwingen im Festprogramm (S. 53f.), den Kirchen und Messfeiern (S. 11, 28f., 41, S. 56-58, 59, 60f.), den Gesprächen in den Wirtshäusern und den Gesprächen der Frauen (S. 39), der jungen Leute (S. 12) oder der alten Männer auf der Straße (S. 30).

Ein Bild von der zum Teil tristen ländlichen Atmosphäre gibt Handkes Beschreibung eines verwahrlosten Schlossinnenhofs in der Gegend von Gmünd: »unten stehen neben einer offenen Tür 2 Couches im Freien, vor 1 Tisch; Blumen wachsen in alten Waschschüsseln[,] ein schwankender Mann tritt aus der Höhlung, schwankt auf den Füßen vor und zurück, rülpst, er ist stumm, bedeutet mir hin- und hergehend, daß ein Gewitter kommt, am Fensterrahmen baumelt ein Plastiksack mit Wäscheklammern drin; Wäschelauge steht im Abfluß, lila in der Hofmitte; das langgezogene Geschrill der Schwalben, das sporadische Rieseln in den Efeuranken, das Donnergrollen, ein leises Radio, die Abfallkübel, das Fahrrad im Schloßeingang, die Sonnenuhr (1617), deren Zahlen abgebröckelt sind; eine schwangere Frau mit Einkaufstasche platscht mit Sandalen an den nackten Füßen aus der Wohnhöhlung, während ein Donner quer über den Himmel zieht wie ein Bomberflugzeug, der erste Tropfen auf meiner Stirn wie ein Insektenstich, er juckt und sticht[,] der sandige Hofboden voll vertrockneter, zertretener Kamille« (S. 44-46).

In Handkes Notizen findet man neben den Beschreibungen auch etliche Reflexionen über sein Verhältnis zur Welt, seine emphatischen Erlebnisse, die sich manchmal auch in Ansprachen an sich selbst und die Menschheit äußerten, und sein Schreiben: »Jedes praktische Wiedererobern der Welt {lernt} man dann, wenn man sich dran gewöhnt hat und die Entdeckung wieder verloren gegangen ist (ihre Kraft verloren hat) DÄMONISIEREN« (S. 3); »Nicht die Welt stürzt ein, sondern ich suche einen Riß in ihr zum Verkriechen, zum Aufblühen, die Welt ist schon immer untergegangen gewesen, nur manchmal geht sie kurz mildstrahlend auf« (S. 8); »Energie für ein neues Zeitalter! – Und es muß ein neues Zeitalter anfangen! (Ich gehe über den nächtlichen Feldhang mit seinen Steinen wie über einen unbewohnten Planeten)« (S. 26) oder: »Ich hielt eine wilde Rede an Ö., ganz für mich« (S. 62). Dabei geht es auch immer wieder um den Tod, seine Angst vorm Tod und die Toten (z.B.: S. 7, 11, 13, 22, 30, 32, 63). Das Leben der Menschen auf dem Land betrachtend fordert Handke: »Schriftsteller: müßten mit letzter Kraft die Würde der Menschen wieder hervorarbeiten« (S. 69) und formulierte damit ein zentrales Anliegen seiner folgenden schriftstellerischen Arbeiten.

Notizen zum Salzburger Land

Im hinteren, in Tamsweg entstandenen Teil des Notizbuchs verändert sich der Stil der Notizen; die Einträge beginnen gedichtartig, wechseln von Satz zu Satz das Thema oder zwischen Innen- und Außenansicht, wobei die einzelnen Sequenzen wie bei Regieanweisungen nur durch Querstriche voneinander getrennt sind. Am 18. Juli notierte Handke etwa: »"Orgeln" in den Dachrinnen, nein ein verschiedentönendes Klingen / Urwelt der drei Bergseen, Scheißegeruch / das angezogene Bein des einen Schächers / "Maria, die erhabene Schutzfrau Österreichs …." / Ameisen, die zwischen den ersten Regentropfen durch den Staub eilen / Frau S., die im Wirtshaus die Speisen immer sofort, vor dem Bestellen anschauen will / Ein Schäferhund, der in die leere Kirche kommt und Weihwasser trinkt« (S. 89ff.). Eventuell hatte diese andere Form des Notierens aber keine ästhetischen Gründe, sondern nur den Zweck, Platz zu sparen, denn man findet sie erst auf den letzten Seiten des Notizbuchs.

Projekte

Die Reise diente der Recherche für sein geplantes Romanprojekt »Ins tiefe Österreich« (S. III), aus dem später die Tetralogie Langsame Heimkehr wurde – Handke gab dem gesamten Notizbuch den Titel des Schreibprojekts. Zuordnungen einzelner Notizen zu einer Figur oder einem Schauplatz findet man jedoch keine. Manche Notizen sind in der dritten Person (in Er-Form) formuliert und könnten bereits die Sicht von Valentin Sorger aus Langsame Heimkehr ausdrücken. Zum Beispiel: »Da die Welt ihm verschlossen blieb, überlegte er, ob es besser wäre, sich ganz sich selber zuzuwenden, als der Welt« (S. 6). Die diversen Kirchen- und Museumsbesuche belegen, dass sich Handke bereits Mitte der 1970er Jahre mit profaner und sakraler Kunst beschäftigt hat. Dabei könnte er im Kunsthistorischen Museum Wien (S. 86) bereits auf das Bild Der große Wald von Jakob van Ruisdael aufmerksam geworden sein, das in Die Lehre der Sainte-Victoire, dem zweiten Teil der Tetralogie, eine Rolle spielt (DLS 119ff.).

Handkes Besuch des Bruders, der in Wien-Simmering arbeitete, könnte im Kontext des Stücks Über die Dörfer stehen (S. 84ff.), des letzten, tatsächlich in Österreich spielenden Teils der Langsamen Heimkehr, in dem die Hauptfigur Gregor auch ihren Bruder trifft. Die Notizen zum Besuch lauten beispielsweise: »Die Bühne in der Kantine [/] Der Kantinenwirt holte für H. das Spezialbier herbei, das nur H. trinkt (Märzen)« (S. 84); »Für H. gibt es nur das Heimatliche, alles andere ist eine Sauerei« (S. 84); »Sein erschöpftes, völlig abwesendes, abweisendes, wie tragisches Gesicht beim Eisenlegen« (S. 84); oder der kleine Dialog: »"Hast du ihn gerne?" – "Er is mei bruada." – "Sag einmal, ob du ihn gern hast?" – "Er is mei bruada, fertig."« (S. 85) Manche Bemerkungen über die Landdörfer erinnern auch an die Schmährede der alten Frau gegen die »Dorferneuerung« in Über die Dörfer (ÜD 62ff.). Handkes abschätzige Notiz über die Beschilderung der Blumen auf den Feldwegen etwa: »Zugrundegehen unter diesen von Schritt zu Schritt häufiger mit hölzernen Tafeln bezeichneten Gewächsen: WEISSDORN, WARZIGER SPINDELSTRAUCH, GEMEINER HOPFEN, oder einfach: HASELNUSS und SOMMERLINDE« (S. 51) sowie der Eintrag: »Ich begrüße immer von weitem erleichtert den Kirchturm des jeweiligen Orts: so seelenlos kann es dort also doch nicht zugehen! (Aber dann steht an der Ortstafel: "Feriendorf", oder "Erholungsort"…)« (S. 66). Kurz zuvor hatte er noch aufgeschrieben: »Dieses ganze wiederkäuende Land, wie nach dem 2. Schlaganfall seelisch dahinschlurfend« (S. 61).

Das Notizbuch enthält keine ins Journal Das Gewicht der Welt übernommenen Einträge, obwohl diese in den darin erfassten Zeitraum von November 1975 bis März 1977 fallen; die beiden Monate Juli und August 1976 wurden dort ausgelassen (DGW 206-207). Handke veröffentlichte einzelne Notizen erst in seinem zweiten Journal Die Geschichte des Bleistifts, durchmischt mit Einträgen aus den Folgenotizbüchern.

Lektüren und Illustrationen

Lektüren verzeichnet das Notizbuch keine, Handke erwähnte auf seiner Schifffahrt von Grein nach Wien nur einmal Joseph von Eichendorff: »Jetzt, über 150 Jahre nach Eichendorff versucht jm. am Ufer der Donau uns was auf der Gitarre vorzuspielen, aber man hört keinen Ton« (S. 73). Es enthält auch nur wenige Illustrationen: Im Steinmuseum von Gmünd malte Handke verschiedene Steinmetzzeichen ab (S. 42), zwei parallele Linien skizzieren eine zuvor beschriebene »Furt im Fluß« (S. 49) und eine fast die Hälfte der Notizbuchseite einnehmende Zeichnung verdeutlicht die Form des Barockgiebels der Stiftskirche von Zwettl (S. 58). (kp)

Siglenverzeichnis Editorische Zeichen

Werkbezüge

Das Gewicht der Welt

Dieses Notizbuch mit Peter Handkes Aufzeichnungen aus der Zeit von 5. bis 21. Juli 1976 enthält keine ins Journal Das Gewicht der Welt übernommenen Einträge, obwohl diese in den darin erfassten Zeitraum von November 1975 bis März 1977 fallen. Die Monate Juli und August blieben stattdessen ausgespart (DGW 206-207), Handke veröffentlichte Teile der Notizen erst später in dem 1982 erschienenen zweiten Journal Die Geschichte des Bleistifts, vermischt mit Einträgen späterer Notizbücher. (kp)

Siglenverzeichnis

Die Geschichte des Bleistifts

Dieses Notizbuch mit Peter Handkes Aufzeichnungen aus dem Zeitraum von 5. bis 21. Juli 1976 umfasst 96 Seiten, die durchgehend von 1-97 paginiert wurden. Das vordere Vorsatz besteht aus drei unpaginierten Seiten, mit Handkes Datierung der Notizen »5.7.-21.7. 1976« (S. II), seiner Adresse und Telefonnummer beim Residenz Verlag in Salzburg und dem Titel seines Schreibprojekts »Ins tiefe Österreich« (S. III). Das hintere Vorsatz zählt ebenfalls drei Seiten, wobei zwei keine Paginierung aufweisen (S. I*-II*) und eine mit der Seitenzahl 97 versehen wurde. Auf den hinteren Vorsatzseiten vermerkte Handke Adressen und Telefonnummern, schrieb dazwischen aber auch noch Notizen.

Montage von Einträgen

Die Einträge dieses Notizbuchs wurden von Handke nicht in sein erstes Journal Das Gewicht der Welt übernommen, welches eigentlich die Aufzeichnungen aus dem Zeitraum von November 1975 bis März 1977 versammelt, sondern erst in sein zweites Journal Die Geschichte des Bleistifts, das ohne Datierungen blieb. Auffällig ist dabei, dass sie mit Notaten aus dem Folgenotizbuch (ÖLA/SPH/LW/W13) und vermutlich auch aus weiteren Notizbüchern vermischt wurden. Der Anfang von Die Geschichte des Bleistifts macht deutlich, dass dieses Journal kein chronologisch verlaufendes Journal wiedergibt, sondern eine (zumindest am Anfang des Journals) arrangierte Zusammenstellung von Notizen. Ein Beispiel für die Montage von Notizen gibt bereits der erste Absatz im Journal: An die ersten beiden Sätze, die aus diesem Notizbuch von Seite 21 und von Seite 11 stammen, reihen sich mehrere Notizsequenzen aus dem Folgenotizbuch; sie fügen sich wiederum mit weiteren Notizteilen aus diesem Notizbuch von den Seiten 73, 34, 8, 81, 69, 66, 79, 33, 35, 76 und 26 zu einem durchgängigen, langen Absatz zusammen, der den Eindruck vermittelt, chronologisch entstanden zu sein (DGB 5ff.).

Auf diesen ersten Absatz folgen zwei Seiten mit Notizen aus diesem Notizbuch (DGB 6-7), danach zwei Seiten mit Einträgen aus dem nächsten Notizbuch (DGB 8-9). Auf den Seiten 10 und 11 sind Notate aus diesem Notizbuch und anderen (bisher noch nicht eruierten) Notizbüchern vermischt. Hier findet man etwa auch einen Eintrag vom Besuch Handkes bei seinem Bruder Hans in Simmering, der beginnt: »Die vollkommene Gleichgültigkeit, mit der der Portier des Werks über die Ein- und Ausgehenden redete [...]« (DGB 11; vgl. S. 84ff.), Handkes Bemerkung zu den drei Selbstbildnissen von Rembrandt, die er bei seinem Besuch im Kunsthistorischen Museum notiert hatte (DGB 11; vgl. S. 86) oder eine auf der letzten Seite des Notizbuchs eingetragene Notiz über die »scheinheiligen Gesichter der Gerechten beim Jüngsten Gericht« (DGB 11; vgl. S. 97).

Der Grund für die Aufnahme der Notizen in das Journal Die Geschichte des Bleistifts dürfte ihre Verbindung zum Projekt »Ins tiefe Österreich« sein, für das Handke 1976 noch recherchierte und aus dem zwischen 1978 und 1981 die Tetralogie Langsame Heimkehr entstand. Sämtliche Notate, die mit diesem Projekt zusammenhängen, wurden erst nach dem Erscheinen der vier Werke von Handke weiterverwendet. Im Klappentext der Erstausgabe von Die Geschichte des Bleistifts heißt es: »In dieses Buch kann man hineingehen wie in ein adernreiches Bergwerk. Es enthält Aufzeichnungen, die Peter Handke in den Jahren 1976-1980 während des Entstehens der epischen Folge "Langsame Heimkehr" gemacht hat.« (kp)

Siglenverzeichnis Editorische Zeichen

Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorsatzblatt): 

Ins tiefe Österreich

Zusätzlich eingetragene Werktitel:  [nicht erfasst]
Entstehungsdatum (laut Vorlage):  5.7.-21.7.1976 [S. II]; 5.7. [S. 1]; 6.7. [S. 5]; 7.7. [S. 9]; 8.7. [S. 27]; 9.7. [S. 40]; 10.7. [S. 54]; 11.7. [S. 63]; 12.7. [S. 71]; 13.7. [S. 77]; 14.7. [S. 81]; 15.7. [S. 83]; 16.7. [S. 86]; 17.7. [S. 87]; 18.7. [S. 88]; 19.7. [S. 91]; 20.7. [S. 93]; 21.7. [S. 95]; Juli 1976 [Beilage]
Datum normiert:  05.07.1976 bis 21.07.1976
Zusätzlich eingetragene Entstehungsorte: 

Obervellach [5.7., S. 2]; Schwarzach-St.Veit [5.7., S. 4]; Linz [6.7., S. 5]; Freistadt [6.7., S. 6]; Bahnhof [von Freistadt, 7.7., S. 12]; Kefermarkt [7.7., S. 16]; Kefermarkter Altar [7.7., S. 17]; Heimatmuseum [7.7., S. 18]; Sandl [7.7., S. 21]; Großpertheim [sic!, eigentlich Bad Großpertholz, 8.7., S. 34]; Großpertholz [8.7., S. 36]; Gmünd [8.7., S. 38]; Steinmuseum [9.7., S. 42]; Museum [9.7., S. 44]; Schloßhof [vermutlich Schloss Gmünd, 9.7., S. 44]; Schmalspurbahn nach Groß Gerungs [9.7., S. 46]; Am Alten Rathaus [in Zwettl, 9.7., S. 53]; Stiftskirche [vermutlich die Kirche von Stift Zwettl; 10.7., S. 56]; Kapelle (: Roiten) [10.7., S. 59]; Rappottenstein [11.7., S. 63]; Morgenbus [12.7., S. 71]; Grein [12.7., S. 71]; am Ufer der Donau [12.7., S. 73]; SCHLEUSE [12.7., S. 74]; Schiff nach Wien [12.7., S. 76]; Fahrt nach Wien [12.7., S. 76]; Stift Melk [12.7., S. 77]; Neuer Markt [Wien, 14.7., S. 81]; Wien; Stephansdom; U-Bahnstation [14.7., S. 82]; Michaelerkirche [14.7., S. 83]; Vom 3. nach Simmering gegangen [15.7., S. 83]; Kantine [15.7., S. 84]; Portiersbaracke [15.7., S. 85]; (Wien Salzburg)š \ Tamsweg/ [16.7., S. 86]; Im Kunsthistorischen Museum [16.7.; S. 86]; Gebirgssee [17.7., S. 87]; Hochgebirge [18.7.; S. 88]; Krankenhaus [Tamsweg; 20.7., S. 93]; Bar [20.7., S. 94f.]; in der kleinen Stadt [vermutlich Tamsweg, 20.7., S. 95]

Materialart und Besitz

Besitz 1:  Deutsches Literaturarchiv Marbach
Art, Umfang, Anzahl: 

Notizbuch »NOTES« mit hellrotem Umschlag, 96 Seiten, I-III, pag. 1-96, I*-II*, pag. 97

Format:  6,6 x 10,4 cm
Schreibstoff:  Kugelschreiber (blau), Fineliner (rot, schwarz), Bleistift
Weitere Beilagen: 

 

  • 1 Papierstreifen mit Klebespuren und hs. Datierungsaufschrift »Juli 1976«, eingelegt beim vorderen Vorsatz

Nachweisbare Lektüren

  • Erwähnung von Joseph von Eichendorff (S. 73)
  • Erwähnung von Gerhard Roth (S. 92, 94)

Bildende Kunst:

  • Rembrandt H. van Rijn: drei Selbstbildnisse im Kunsthistorischen Museum Wien (S. 86)

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 

 

  • »Turnv« in Frakturschrift (S. 10)
  • Steinmetzzeichen (S. 42)
  • kleine Skizze (zwei Linien) einer »Furt im Fluß« (S. 49)
  • Zeichnung eines Barockgiebels der Kirche von Stift Zwettl (S. 58)