Entstehungskontext

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Rund um das Große Tribunal (2003) ist ein politischer Essay, in dem Peter Handke von seinen Reisen zum Den Haager Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und von seinen Eindrücken als Beobachter des Prozesses gegen den ehemaligen Präsidenten Serbiens und Jugoslawiens, Slobodan Milošević (1941–2006), berichtet. Er steht im Kontext der »Jugoslawien-Debatte« um Peter Handke, die sich mit seinem ersten »Serbien-Essay« Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien von 1996 entzündete und durch seine weiteren Serbienreiseberichte Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996), Unter Tränen fragend (2000) sowie durch seinen Folgeessay zum Milošević-Prozess, Die Tablas von Daimiel (2006), immer wieder neu entfachte. Zu dieser Reihe von Serbien-Texten kann auch das Theaterstück Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999) gezählt werden. Einen Höhepunkt erreichte die Diskussion um seine Sicht des Jugoslawien-Kriegs und seine »Parteinahme« für Serbien mit der Rede beim Begräbnis von Slobodan Milošević im März 2006 (das Original der Rede befindet sich im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek ÖLA 326/W28/8) und der daraus resultierenden Aberkennung des Heinrich-Heine-Preises der Stadt Düsseldorf im Mai 2006. Den »Serbien-Essay« setzte Handke auch danach immer weiter fort – mit der »Nachschrift« Die Kuckucke von Velika Hoča (2009) oder mit Die Geschichte des Dragoljub Milanović (2011).

Wann Handke den Entschluss gefasst hat, einen Essay über das Den Haager Kriegsverbrechertribunal zu schreiben, lässt sich aus den vorhandenen Quellen zu Rund um das Große Tribunal nicht eruieren. Zum Internationalen Strafgerichtshof dürfte er mehrere Reisen unternommen haben, die sich allerdings ebenfalls nicht alle in den Quellen nachweisen lassen – die Notizbücher dieser Zeit, die Aufschluss über seine Schreibpläne und Reisen geben könnten, befinden sich bereits am Deutschen Literaturarchiv Marbach, sind aber noch nicht öffentlich zugänglich (Stand: Mai 2012). Die Idee zum Essay könnte sich auch mit der Arbeit an den Texten Unter Tränen fragend und Die Fahrt im Einbaum ergeben haben. Eine Figur im Theaterstück, der Waldläufer, verkörpert den in einem deutschen Kriegsverbrecherprozess 1997 verurteilten Novislav Djajić – seine Geschichte erzählt Handke in der Buchausgabe vom Großen Tribunal (RT 52-57). Im Essay selbst berichtet Handke von mehreren Fahrten nach Den Haag: einmal im März 1998 (RT 24) – diese Reise könnte noch im Zusammenhang mit dem Stück stehen; dann im Februar 2002 (RT 25) – zwischen seiner Arbeit am Theaterstück Untertagblues; und im »Juni 2002, nach weiteren zwei Besuchen in Den Haag« (RT 34), die allerdings in den vorhandenen Quellen nicht weiter dokumentiert sind. Ende April 2002 beendete Handke die Arbeit an der Typoskriptfassung von Untertagblues, und im Mai 2002 verfasste er ein Vorwort zum Sammelband Mündliches und Schriftliches. Die beiden nicht dokumentierten Reisen hat Handke demnach wahrscheinlich im Mai unternommen. Bei seinem Aufenthalt Mitte Februar 2002 besuchte er Milošević im Königlichen Gefängnis von Scheveningen (RT 25) und beobachtete kurz nach dem offiziellen Prozessbeginn am 12. Februar 2002 an einem Tag die Verhandlung in Den Haag (RT 38). Seine Beobachterrolle beim Prozess wurde von der Presse unterschiedlich kommentiert. Im Tagesspiegel (Berlin) vom 19. Februar 2002 liest man im Artikel Caroline Fetscher beobachtet einen Beobachter im Milošević-Prozess: »Da steht er ja der Dichter! Was will er denn hier? Auf der Vortreppe des Den Haager Tribunals für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien hat der Dichter sich zu den Belgrader Anwälten gesellt. Er plaudert in der Landessprache. Peter Handke beherrscht sie, denn seine Mutter war Slowenin. Er ist, so wurde berichtet, Ehrenbürger von Serbien, und er tritt so vehement wie poetisch gegen die Verurteilung des serbischen Volkes ein. Dieses Anliegen teilt er mit der Chefanklägerin Carla del Ponte. […]«. Handke hat sich auf diesen Artikel und die darin formulierten Unterstellungen beim Schreiben seines Essays an mehreren Stellen bezogen (RT 10, 15, 45, 57, 61, 63). Cathrin Schütz, eine Journalistin der Berliner Zeitung junge Welt, griff bei ihrer Darstellung von Handkes Prozessbesuch zu ungewöhnlichen Mitteln: Sie veröffentlichte am 21. Februar 2002 ein Interview mit Peter Handke unter dem Titel Prozeß gegen Milosevic in Den Haag: Keine Nationalisten weit und breit?, das sich als erfunden herausstellte und von der Zeitung am Tag darauf als »Missverständnis« entschuldigt werden musste. Der Standard (Wien) vom 23./24. Februar 2002 berichtete: »Die angeblichen Dichter-Aussagen ("Das Plädoyer ist bemerkenswert, Milošević ist wundervoll") stellten sich jedoch als Zeitungsente heraus: Peter Handke dementierte und hielt fest, kein Interview gegeben zu haben ("solche Sätze würde weder der fiktive noch der echte Peter Handke sagen"). […] Inzwischen haben die fiktiven Aussagen aber viele reale Reaktionen hervorgerufen. Besonnenere sollten auf Peter Handkes Text warten, der in der SZ erscheinen wird.« Auch bei seiner dritten dokumentierten Reise zum Kriegsverbrechertribunal in Den Haag Anfang Juni 2002 beobachtete Handke den Prozess. Seine Eindrücke von der Verhandlung, von Den Haag und von im Carlton Beach Hotel von Scheveningen untergebrachten Zeugen notierte er im Februar und Juni auf ihm gerade verfügbarem Papier – auf der leeren Rückseite von Presseinformationsblättern zum Prozess, auf der Rückseite des kopierten Vorworts zum Sammelband Mündliches und Schriftliches (2002), der zu dieser Zeit im Verlag bearbeitet wurde, oder am Briefpapier des Hotels. Den vorhandenen Quellen nach hat Handke den Essay kurz nach seiner Rückkehr vom letzten Prozessbesuch in Chaville geschrieben. Die am Typoskriptrand der vermutlich ersten Textfassung vermerkten Datumseinträge setzen den Schreibbeginn mit 11. Juni 2002 an, wobei er den Essay (mithilfe von Beiblattnotizen zur Konzeption) direkt in die Schreibmaschine getippt haben dürfte. Beendet hat Handke die Arbeit an der ersten Textfassung am 4. Juli 2002. Diese Version des Textes veröffentlichte er am 4. Oktober 2002 im Magazin der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel "Und wer nimmt mir mein Vorurteil?". Drei Monate später, am 27. Jänner 2003, erschien eine erweiterte Version als edition suhrkamp-Sonderband im Suhrkamp Verlag. (kp)

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