Entstehungskontext

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Mit Peter Handkes Essay Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien begann eine mehrere Jahre anhaltende Auseinandersetzung des Autors mit dem Zerfall Jugoslawiens und den damit einhergehenden Kriegskonflikten ab 1991. Zusammen mit dem früheren Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991) können dieser Essay sowie eine Reihe nachfolgender Prosa- und Dramentexte gemeinhin zum Werkkomplex der »Jugoslawientexte« zusammengefasst werden: Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996), Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999), Unter Tränen fragend (2000), Rund um das Große Tribunal (2003), Die Tablas von Daimiel (2006), Die Kuckucke von Velika Hoča (2009) und zuletzt Die Geschichte des Dragoljub Milanović (2011).

Serbienreise Oktober/November 1995

Die kriegerischen Auseinandersetzungen im zerfallenden Jugoslawien nennt Handke als konkreten Grund für seine erste Reise nach Serbien, »in das Land der allgemein so genannten "Aggressoren"« (ERF 13). »Schon lange«, so der einleitende Satz des Essays, »hatte ich vorgehabt, nach Serbien zu fahren.« (ERF 11). Im Gespräch mit Gabriel Grüner (Stern, 1.3.1996) gab Handke an, das Thema habe ihn »viereinhalb Jahre beschäftigt, und ich habe mich nur gefragt, wann ist der Zeitpunkt, was kann ich sagen und wie kann ich es sagen.« Die im Text mit Abkürzungen genannten und tatsächlichen Mitreisenden waren neben Peter Handkes Frau Sophie Semin die beiden »Freunde aus Serbien« (ERF 15): Zlatko Bocokić, den er in seinen »Salzburger Jahren« kennengelernt hatte und Žarko Radaković, Handkes Übersetzer ins Serbische, zu dem sein amerikanischer Übersetzer Scott Abbott, der »Mormone aus Utah« (ERF 16), den Kontakt vermittelt hatte. Die Reise war, neben den im Essay genannten Absichten, zugleich auch eine Hochzeitsreise, da Handke und Semin am 7. Oktober 1995 in Chaville geheiratet hatten (Pichler 2002, S. 173; Handke / Unseld 2012, S. 656).

Ausgangs- und Treffpunkt aller Beteiligten war Ende Oktober 1995 Belgrad (ERF 20), wo sie während des ersten Teils der Reise im Hotel Moskva wohnten. Von Belgrad aus besuchten sie die Vorstadt Zemun (ERF 62), nach dem um zwei Tage verspäteten Eintreffen Zlatko Bocokićs folgte eine Fahrt nach Smederevo, südöstlich von Belgrad, tags darauf kamen sie – wieder von Belgrad aus – in das Dorf Porodin, das Heimatdorf Bocokićs. Als »einzigen ein wenig offiziellen Tag in Serbien« bezeichnete Handke den folgenden Besuchstag im »mittelalterlichen Kirchen- und Klosterkomplex von Studenica« (ERF 76), über die Städte Kragujevac und Kraljevo (ERF 77), an dem sie vom serbischen Schriftsteller Milorad Pavić begleitet wurden, und »an jenem selben etwas offiziellen Tag« war Handke »in Belgrad für den Abend noch mit [...] Dragan Velikić verabredet« (ERF 80-81), einem weiteren Schriftsteller. Diese Verabredung stellte sich unerwartet als »eine Art Rundgespräch« mit weiteren Gästen in einem »kleine[n] Verlagshaus« heraus, die Stimmung war »stumm, gereizt, ratlos« (ERF 83).

Der darauf folgende »letzte Teil unserer Reise« führte »zur Grenze nach Bosnien«, ohne Sophie Semin, die »bereits nach Frankreich gefahren« war (ERF 87). Über Valjevo erreichten sie zu dritt Bajina Bašta an der Drina, wo sie am zweiten Tag vom örtlichen Bibliothekar zur Grenzbrücke nach Bosnien geführt wurden und die als »Partisanin« im Essay genannte Dušanka Nikolić in Perućac besuchten. Die Abreise unternahm Handke schließlich nur noch zusammen mit Zlatko Bocokić. Sie fuhren nach Novi Sad und zuletzt weiter an die ungarische Grenze bei Subotica. Die gesamte Reise könnte, den äußerst vagen Tagesangaben des Essays folgend, acht bis zehn Tage gedauert haben, möglicherweise von 30. Oktober bis 8. November 1995. Da Handke am 10. November in Stuttgart den Schiller-Gedächtnispreis entgegennahm, musste die Rückfahrt jedenfalls zeitgerecht erfolgt sein (Handke / Unseld 2012, S. 656).

Bleistiftmanuskript

Etwa zwei bis drei Wochen nach dem Ende der Reise begann Handke, vermutlich in Chaville, am 27. November 1995 die Niederschrift der ersten Textfassung als Bleistiftmanuskript, an der er bis zum Abend des 11. Dezember arbeitete. Als Schreibmaterial verwendete er dafür die Rückseiten einer offenbar nicht mehr benötigten Typoskriptkopie seines zuvor verfassten Theaterstücks Zurüstungen für die Unsterblichkeit. Unmittelbar danach dürfte er selbst eine zweite maschinschriftliche Textfassung begonnen haben, in der die Sofortkorrekturen aus dem Manuskript umgesetzt sind. Gabriel Grüner gegenüber (Stern, 1.3.1996) äußerte Handke, den Text »zügig vom Morgengrauen bis in die Abenddämmerung geschrieben« zu haben.

Typoskript

Die zweite Textfassung ist mit der Angabe »27. Nov. – 17. Dez. 1995« datiert, geschrieben wurde sie aber tatsächlich in den Tagen zwischen 12. und 17. Dezember. Da die Datumsangabe in der Buchausgabe mit 19. Dezember endet (ERF 135), könnten noch zwei weitere Schreib- oder Korrekturtage hinzugekommen sein. Bis zum 30. Dezember 1995 gab es zwischen Handke und seinem Verleger Siegfried Unseld keine auf das Projekt bezogene Briefkorrespondenz. Dieser hatte den Text am 21. Dezember »per Kurier« erhalten (Handke / Unseld 2012, S. 657). Am 13. und 14. Jänner kam es zu einem Treffen in Madrid, wo sich Handke während der beiden Erstveröffentlichungstermine des Essays aufhielt (vgl. Reiter / Seiler in: Deichmann 1999, S. 154). Dort fielen die Entscheidungen zur Publikation des Texts bei Suhrkamp einerseits und zur weiteren Zusammenarbeit Handkes mit seinem Lektor Raimund Fellinger (Handke / Unseld 2012, S. 658 u. S. 702). Unseld vermerkte, bezogen auf den Text, in seinem Reisebericht lediglich: »Von 16.00-20.00 Uhr wollte er den Text seiner Serbien-Geschichte korrigieren. Als wir uns abends trafen, war er nicht ganz fertig, er mußte noch am Sonntagvormittag daran arbeiten. [...]« (Handke / Unseld 2012, S. 658). Es gilt als sicher, dass es sich dabei um die Druckfahnen des 14 Tage später erscheinenden Buches handelte.

Erstveröffentlichung in der Süddeutschen Zeitung und Buchausgabe

Die erste Veröffentlichung des Essays erfolgte in zwei Teilen in der Süddeutschen Zeitung, am 5./6. und am 13./14. Jänner 1996, unter dem von der Buchausgabe abweichenden Titel Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa. Das Buch wurde am 2. Februar 1996 vom Suhrkamp Verlag ausgeliefert (Handke / Unseld 2012, S. 660). Tags davor hatte Siegfried Unseld Peter Handke und Sophie Semin in Paris getroffen und ein Exemplar überbracht, wobei sie unter anderem Handkes »wenig freundlich[e] Bemerkungen über die Buchausgabe« (Handke / Unseld 2012, S. 660) besprachen, die dieser in einem Interview mit der Zeit geäußert hatte (»Ich bin nicht hingegangen, um mitzuhassen«, 2.2.1996). In einem Brief vom 5. Februar äußerte sich Unseld »gespannt, wie sich der Vorabdruck auf den Absatz des Buches auswirken wird.« (Handke / Unseld 2012, S. 659) Über die Rezeption von Eine winterliche Reise und zur Lesereise ab Februar sind keine weiteren Briefe zwischen Handke und Unseld dokumentiert, der Essay war auch Thema eines freundschaftlichen Briefwechsels mit Alfred Kolleritsch vom 5. Jänner bis zum 26. November 1996 (Handke / Kolleritsch 2008, S. 223-230).

Bemerkenswert ist, dass schon im Mai 1996 die serbische Übersetzung (Übersetzer war Zlatko Krasni) erschien, die am 17. Mai in Belgrad präsentiert wurde, am 1. Juni folgte kurz darauf die französische Übersetzung durch Georges Lorfèvre. Dieser war ein eigenes Vorwort für die nichtdeutschsprachigen Leser vorangestellt, das Handke im April 1996 verfasste. Der ursprüngliche Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt hatte die Arbeit nach einem Konflikt mit Handke abgegeben, da dieser nicht bereit war, sich in einem Vorwort »von Srebrenica [zu] distanziere[n]« (vgl. das Gespräch mit Gabriel Grüner in: Stern, 1.3.1996).

Lesereise von Februar bis Juni 1996

Im ersten Halbjahr, beginnend mit dem Erscheinen des Buches, trat Handke erstmals nach mehr als fünfzehn Jahren zu einer Lesereise an (Pichler 2002, S. 175). Beim Treffen mit Siegfried Unseld am 1. Februar berichtete dieser über die »Bemühungen um die Lesereise« (Handke / Unseld 2012, S. 660). In einem ersten Vorschlag Handkes waren Berlin, Frankfurt, München sowie Wien enthalten, im Laufe des Gesprächs tauschte er Berlin gegen Hamburg. Von den im Interview mit der Zeit (2.2.1996) angedachten »balkanischen Orten« Ljubljana, Zagreb, Belgrad und Sarajevo warnte Unseld (Handke / Unseld 2012, S. 660). Als Moderatoren einigten sie sich auf Wolfgang Wiens für Hamburg, Siegfried Unseld für Frankfurt und Peter Hamm für München. Sein Honorar für die Reise spendete Handke, wie Hannes Krauss' Kommentar für den Freitag zu entnehmen ist, »für die Jugoslawienaktivitäten des "Komitees für Grundrechte und Demokratie"« (Deichmann 1999, S. 106). Die vollständige, über den Suhrkamp Verlag organisierte Lesereise umfasste zuletzt: »Hamburg (Thalia Theater, 18. Februar), Frankfurt am Main (Schauspiel, 25. Februar), München (Universität, 4. März), Wien (Akademietheater, 18. und 24. März), Graz (Exit, 19. März), Klagenfurt (ORF, 20. März), Ljubljana (Drama, 21. März), Salzburg (Osterfestspiele, 29. März), Leipzig (Altes Rathaus, 30. März), Heidelberg (Universität, 30. Mai), Stuttgart (Staatstheater, 2. Juni) sowie Essen (Theater, 10. Juni)«. Thomas Deichmann führt zusätzlich Madrid an, ohne ein Datum zu nennen (Deichmann 1999, S. 16). Hinzu kamen zumindest zwei weitere Auftritte: am 17. Mai im Nationaltheater und in der Nationalbibliothek in Belgrad, am 22. Mai in der National- und Universitätsbibliothek Priština, sowie am 3. Juni im Österreichischen Parlament (Handke / Unseld 2012, S. 661). (ck)

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