Entstehungskontext

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Nach der Publikumsbeschimpfung (1966), den drei kleineren Sprechstücken Weissagung (1966), Selbstbezichtigung (1966) und Hilferufe (1967), dem stummen Stück Das Mündel will Vormund sein (1969) und dem »Welttheater« Quodlibet (1970) schrieb Peter Handke mit Der Ritt über den Bodensee seine siebte Bühnenarbeit als eine Zusammenfassung und konsequente Weiterentwicklung seines Theaters. Der Ritt über den Bodensee entstand im Frühjahr/Sommer 1970 in seiner Wohnung in der Cité Chaptal im 9. Arrondissement von Paris, wohin er Anfang des Jahres mit seiner Frau Libgart Schwarz und seiner knapp einjährigen Tochter Amina von Berlin übersiedelt war. Das Stück erschien am 12. Jänner 1971 im Suhrkamp Verlag als Buch und wurde, vermittelt durch den Verlag der Autoren, am 23. Jänner 1971 an der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin uraufgeführt.

Entwicklung des Schreibprojekts

Erste konzeptionelle Ideen zum Stück dürften bereits auf den Sommer 1967 zurückdatieren. »Der letzte Gedanke an Kaspar wurde der erste Gedanke zu Der Ritt über den Bodensee«, erklärte Handke in seinen Bemerkungen zum Stück, die im Programmheft der Schaubühne abgedruckt wurden (Kastberger / Pektor 2012, S. 111). Damit deutete er nicht nur die Wiederaufnahme und Weiterführung des Themas an, das Bewusstmachen gesellschaftspolitischer Sprachspiele. Mit der Arbeit an Kaspar könnte auch die Idee zu einem neuen Stück entstanden sein.

Der nächste Hinweis auf das Stückprojekt findet sich erst wieder in einem Gespräch, das der Literaturkritiker Hans Bertram Bock mit Peter Handke im Sommer 1968 für die Münchner Abendzeitung führte. Darin erzählte Handke von seinen Schreibplänen und meinte über sein gerade fertiggestelltes stummes Stück Das Mündel will Vormund sein, es sei »eine Etüde, die Vorbereitung auf das nächste große Stück. Darüber [könne er] aber noch nichts sagen, es [könne] zwei oder drei Jahre bis dahin dauern.« (Bock 1968)

Wieder ein Jahr später, am 25. September 1969, sandte Handke das nur vierseitige Typoskript von Quodlibet an den Verlag der Autoren, das, wie er die Kürze entschuldigend schrieb, »neben der Arbeit an dem geplanten großen Stück "Der Ritt über den Bodensee" entstanden« sei (Frankfurter Universitätsarchiv, Bestand: Verlag der Autoren, Verlagskorrespondenz). Die Konzeption des »großen Stücks« war im September 1969 immerhin so weit gediehen, dass Handke den Titel wusste. Er geht auf die Ballade Der Reiter und der Bodensee von Gustav Schwab zurück, deren Grundidee er auch für das Stück übernahm. Darin erschrickt der Reiter im Nachhinein über seinen Ritt auf dem zugefrorenen See zu Tode. In Handkes Stück bewegen sich die Schauspieler im übertragenen Sinne auf dem dünnen Eis der Sprache und erschrecken beim schockartigen Bewusstwerden der Bedeutungen ihrer sprachlichen Handlungen.

Im Jänner 1970, weitere vier Monate später, bezeichnete Handke im Interview mit Rainer Litten sein zu der Zeit in Basel uraufgeführtes Stück Quodlibet als »Vorspiel« von Der Ritt über den Bodensee (Scharang 1977, S. 158). In den Bemerkungen zum Ritt über den Bodensee erklärte er später den Zusammenhang der Stücke genauer. In Mündel und Quodlibet sollten »die Theaterformen so von den sie sonst unkenntlich machenden Geschichten isoliert erscheinen, daß die Formen zu Posen wurden und identisch werden konnten mit Posen im täglichen Leben: die Darstellung der Theaterposen war unter anderem ein Versuch, auch die täglichen Umgangsformen als Posen vorzuführen.« (Kastberger / Pektor 2012, S. 111) Im Ritt wurde das nun auf alle Zeichenhandlungen (Sprache und Gesten) ausgedehnt.

Bei dem Stück Der Ritt über den Bodensee sollte es sich, auch das Personal betreffend, um eine Fortsetzung von Quodlibet handeln, erzählte Handke im Interview mit Litten. Es »kommen die gleichen Welttheaterfiguren vor: der General, der Bischof, der Rektor der Universität usw. Aber sie treten in ganz anderen, deutlicheren Beziehungen zueinander auf. Es findet eine Geschichte statt zwischen diesen Figuren. Außerdem treten da noch Zwillinge auf – auch so ein Welttheaterrequisit, nicht? –, die einander gar nicht ähnlich sehen, aber auf der Bühne dauernd verwechselt werden. Das Klima dieser Figuren, ihre Bewußtseinshaltung wird in Quodlibet analysiert, und im Ritt über den Bodensee wird dann in Einzelheiten gezeigt, wohin die Bewußtseinshaltung dieser Figuren führt in den alltäglichen Beziehungen der Menschen.« (Scharang 1977, S. 158) Ob Handke das Konzept geändert hat oder die Figuren im Ritt nur indirekt diese Welttheaterfiguren darstellen sollten, ist schwer zu sagen. Im fertigen Stück sind die Figuren jedenfalls explizit Schauspieler, berühmte Stummfilmstars, die sich selbst spielen. Handke rückte damit die Handlung noch deutlicher in den Bereich der Kunst, des Theaters.

Notizen

Nach der insgesamt an die drei Jahre dauernden Konzeptionsphase (von 1967 bis 1970) begann Handke schließlich im Mai 1970 mit der Arbeit am Stück. Er sammelte »Sätze« – Beobachtungen von sprachlichen und gestischen Kommunikationssituationen oder bei anderen Autoren bereits vorgeformte Erfahrungen und Modelle. Notiert wurde dabei nur, was für das Stück relevant war. Siegfried Unseld besuchte ihn am 11. Mai in Paris und vermerkte in seinem Reisebericht: »Er fühlt sich nicht sehr produktiv in Paris. Von dem neuen Stück "Ritt über den Bodensee" hat er in seinem Notizbuch etwa 10 Seiten. Im übrigen möchte er keine Stücke mehr schreiben, sondern Romane.« (Handke / Unseld 2012, S. 173)

Dass sich Handke unproduktiv fühlte, erstaunt angesichts der im ersten Halbjahr 1970 geschriebenen und erschienenen Texte: Im Jänner erweiterte Handke parallel zu den Proben für die Uraufführung den Text von Quodlibet. Er schrieb das Nachwort zur Neuausgabe von Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald (Handke / Unseld 2012, S. 158), Anfang Februar beendete er die Arbeit an seinem Fernsehfilm Chronik der laufenden Ereignisse. Im Februar erschien seine Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Anfang Mai entstand sein Hörspiel Wind und Meer, das noch im selben Jahr vom Bayrischen Rundfunk produziert wurde.

Am 15. Mai 1970, vier Tage nach Unselds Besuch, hatte Handke, wie er in einem Brief an Karlheinz Braun (den damaligen Leiter des Verlags der Autoren in Frankfurt) mitteilte, »schon 60 Notizheftseiten Notizen« und er plante Mitte/Ende Juli mit dem Stück fertig zu sein. In dem Brief bat er Braun darüber hinaus um die Zusendung von Büchern, die er für die Arbeit dringend benötige: um theatertheoretische Texte von Tschechow, um Komödien von Shakespeare, und Stücke von Beckett und Nestroy (Universitätsarchiv Frankfurt, Bestand Verlag der Autoren, Korrespondenz; Kastberger / Pektor 2012, S. 112).

Veröffentlichung der Notizen

Etwa zur gleichen Zeit, am 13. Mai 1970, schlug Handke seinem Freund Alfred Kolleritsch einen Abdruck von Notizen zum Stück in der Literaturzeitschrift manuskripte vor und meinte dazu: »Vielleicht ist das einmal interessanter als fertige Texte.« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 37; Kastberger / Pektor 2012, S. 113) Damit gab Handke erstmals (sieben Jahre vor dem Erscheinen seines ersten Journals) seinen Notizen zu einem Werk Bedeutung. Das Abtippen der Notizhefteinträge verzögerte sich noch etwas, weil Handke einige Tage mit seinem Kind alleine war. Er sandte Kolleritsch das Typoskript in einem Brief vom 24. Juni 1970 und betonte erneut: »Ich glaube aber, daß das gerade das richtige ist für die manuskripte, besser jedenfalls als diese abgeschlossenen runden Sachen« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 38 u. 39).

Die Notizhefte Handkes und die abgetippten Notizen zum Stück sind nicht mehr erhalten. Einen Eindruck von Handkes Art zu notieren gibt der Abdruck im Heft 29-30 der manuskripte (S. 72-73). Er erschien dort lange vor der Buchausgabe des Stücks mit einer Vorbemerkung Handkes unter dem Titel Der Ritt über den Bodensee (aus den Notizen zu einem Stück). Auszüge der Notizen wurden später auch in die Programmhefte der vielen Ritt-Aufführungen übernommen. In der Vorbemerkung schrieb Handke: »Bei dem folgenden handelt es sich um Fragmente von Fragmenten von Szenen zu einem Stück, das noch nicht, jedenfalls noch nicht heute, am 24.6.70, geschrieben ist. […] Die Personen werden vielleicht heißen: Elisabeth Bergner [/] Henny Porten [/] Emil Jannings [/] Heinrich George [/] Erich von Stroheim [/] Alice und Ellen Kessler […] und so könnte man sich einige Fragmente von Szenen vorstellen: [/] Jemand zieht sich die Schuhe an. "Du gehst weg?" "Nein, ich ziehe mir nur die Schuhe an." [/] Jemand redet und redet; plötzlich unterbricht er sich und sagt zum anderen: "Aber sie wollten doch etwas sagen!"« (Handke 1970e, S. 72)

Textfassungen

Die Entstehungszeit der ersten Textfassung von Der Ritt über den Bodensee lässt sich anhand der Archivmaterialien gut feststellen, denn Handke datierte am rechten Blattrand des Typoskripts jeden Schreibtag. Das 32 Blatt zählende, einzeilig getippte und handschriftlich korrigierte Typoskript der ersten Textfassung entstand den Einträgen zufolge in nur dreizehn Tagen zwischen dem 26. Juni und 8. Juli 1970. Er begann also zwei Tage, nachdem er Kolleritsch die Notizabschrift geschickt hatte, mit dem Schreiben des Textes.

Am 16. Juli schrieb Handke an Karlheinz Braun: »das Manuskript liegt also dabei. Ende Juli, wenn Wolfgang [Wiens] zurück ist, würde ich dann nach Frankfurt kommen, und wir könnten darüber reden.« (Universitätsarchiv Frankfurt, Bestand Verlag der Autoren, Korrespondenz) Am 22. Juli 1970 informierte er auch Unseld über die Fertigstellung des Stücks (Handke / Unseld 2012, S. 181). Ob er Braun und Unseld das Typoskript der ersten Fassung oder ein überarbeitetes und korrigiertes Typoskript einer zweiten Fassung zusandte (zwischen dem 8. und 16. Juli hätte Handke eine Woche Zeit gehabt, eine Abschrift anzufertigen), lässt sich nicht eruieren. Eine Überarbeitung ist zwar anzunehmen, kann aber aufgrund fehlender Quellen nicht bestätigt werden.

Bühnenbücher, Erstdruck und Erstausgabe

Aus einem Brief Handkes an Wolfgang Wiens vom 29. August 1970 erfährt man, dass der Verlag der Autoren, bei dem die Aufführungsrechte des Stücks lagen, Text- bzw. Bühnenbücher hergestellt hatte, die Handke zur Überprüfung zugeschickt bekam: »Das Stück habe ich auch schon, es ist ja ganz ordentlich getippt. Ein paar kleine Fehler sind mir beim flüchtigen Lesen aufgefallen«. Die Verhandlungen mit verschiedenen Theaterhäusern waren zu dieser Zeit schon in Gang. Wiens antwortete (der Brief ist undatiert): »vielen Dank für die Korrekturen, ich habe sie in ein Buch übertragen, das hier zur Einsicht für Regisseure liegenbleibt, und in der nächsten Auflage werden sie natürlich berücksichtigt.« (Universitätsarchiv Frankfurt, Bestand Verlag der Autoren, Korrespondenz)

Wiens teilte Handke außerdem mit, er habe ein korrigiertes Exemplar des Textbuchs an Hildebrandt geschickt – gemeint war damit wohl Dieter Hildebrandt, ein Lektor des Suhrkamp Verlags. Das Bühnenbuch diente vermutlich als Satzvorlage für den Erstdruck des Stücks im Oktoberheft 1970 von Theater heute (S. 69-84) und der Erstausgabe in der edition suhrkamp, die am 12. Jänner 1971, zwei Wochen vor der Uraufführung, ausgeliefert wurde.

Uraufführung

Die Premiere fand am 23. Jänner 1971 an der 1970 neu gegründeten, ein Mitbestimmungsrecht aller Mitarbeiter berücksichtigenden Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin statt. Regie führten Claus Peymann und Wolfgang Wiens. Das Bühnenbild gestaltete erstmals Karl-Ernst Herrmann, die Kostüme entwarf Moidele Bickel. Hauptdarsteller waren Edith Clever (Henny Porten), Bruno Ganz (Heinrich George), Jutta Lampe (Elisabeth Bergner), Günter Lampe (Erich von Stroheim), Otto Sander (Emil Jannings), Barbara Sukowa und Barbara Bertram (Alice und Ellen Kessler). Die Inszenierung entstand unter dem Druck, die Politiker von der Bedeutung der Bühne zu überzeugen, um die weitere Subventionierung, die zur Debatte stand, zu gewährleisten.

Handke war bei der Premiere nicht anwesend. Unseld notierte in seinem Reisebericht am 23. Jänner 1971 zur Uraufführung: »Faszinierende Aufführung, die nach meiner Ansicht von keinem anderen Theater wiederholt werden kann. Doch ich weiß nicht, ob das ein Einwand gegen das Stück ist, ich habe hier den Eindruck, daß Stück und Machbarkeit zusammengehören. Die Atmosphäre des Theaters war natürlich einerseits bestimmt von den politischen Diskussionen der vergangenen Tage und dem Gewähren der Subvention am letzten Tag vor diesem Uraufführungs-Termin, andererseits war schon auch spürbar, daß das Stück von Handke und die Inszenierung durch Peymann nicht so recht in die sozialistischen Vorstellungen der Bühne sich einfügen ließen; mit einem geradezu ungeheuerlichen Aufwand wurde die Ideologisierung des Stückes geschützt. […] Trotz aller Ideologie war es ein aufregender Abend, der irgendwie die Zuschauer zwischen Begeisterung und Ablehnung teilte.« (Handke / Unseld 2012, S. 187) (kp)

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