Belgrad

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Belgrad ist die Hauptstadt Serbiens. Die Stadt liegt an der Mündung der Save in die Donau in der nördlichen Hälfte des Landes und befindet sich direkt an der Grenze zur autonomen Provinz Vojvodina. Im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens in den 1990er Jahren, beginnend mit der Abspaltung Sloweniens (1991), auf die die kroatischen und bosnischen Unabhängigkeitskämpfe (1991-1995) folgten, war Belgrad als damals jugoslawischer Regierungssitz ein wichtiger machtpolitischer Schauplatz. Im Rahmen des Kosovokrieges (1999) wurde Belgrad, wie viele serbische Städte, von der NATO bombardiert; zu diesem Zeitpunkt war die »weiße Stadt«, wie der Name übersetzt wird, Hauptstadt der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro, Nachfolgestaat der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien). Der serbische Staat in seiner heutigen Form existiert seit 2006 mit Belgrad als Parlamentssitz.

In seinen essayistischen »Jugoslawien-Texten«, die enorme mediale Debatten über die Perspektive des Autors auf die Kriegsereignisse auslösten, erzählt Peter Handke über seine Reisen am Balkan und beschreibt vor allem die Gegend beiderseits der Drina, die die Grenze zwischen Bosnien & Herzegowina und Serbien markiert. Er schildert jedoch auch seine An- und Abreisen, die ihn immer wieder durch und nach Belgrad führten. Ein Blick in die am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrten Sammlungsmaterialien verrät, dass Peter Handke Jugoslawien (bzw. seine Nachfolgestaaten) sehr häufig besucht hat und weiterhin besucht; nur einen Bruchteil dieser Reisen hat er in Texten verarbeitet. In seinem ersten Reisebericht Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina (ERF, 1996) findet sich eine umfangreiche Schilderung Belgrads, nur nebenbei erwähnt wird die Stadt im Folgetext Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (SNR, 1996). In Unter Tränen fragend (UT, 1999), Handkes Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999, kommt der Autor auf viele der Plätze zurück, die schon in der winterlichen Reise eine Rolle gespielt hatten. In seinem Umwegzeugenbericht für den Den Haager Prozess gegen Slobodan Milošević Die Tablas von Daimiel (DTD, 2006) griff er seine auf den Reisen gemachten Beobachtungen ebenfalls auf. Auch in der Geschichte des Dragoljub Milanović (DGD, 2011) bringt der Autor Belgrader Schauplätze zur Sprache.

Novi Beograd

In der winterlichen Reise findet sich die umfangreichste Darstellung der »Kapitale«. Handke beschreibt seine Ankunft am Belgrader Flughafen und die folgende Fahrt in die Stadt. Sie führt »durch die Neustädte, das "Novi Beograd"« (ERF 54), einen Stadtteil, der in der Zeit des Kommunismus zwischen Belgrad und die vormals selbstständige Stadt Zemun gebaut wurde. Novi Beograd kann, wie auch Handke bemerkte, als Negativbeispiel für großflächige Stadtplanung gesehen werden; »die Horizonte verriegelt von den "typisch kommunistischen" Hochblöcken« (ERF 12). Den Umständen seiner Erbauung ist es zu verdanken, dass sich Reisende auch heute noch an »prospektbreiten Einfallsstraßen« entlang »zwischen der vielen, fast schon steppenhaften Leere« (ERF 54) stadteinwärts bewegen. Handke schrieb 1996 von den »Neubauten«, die »unvollendet stehengelassen [worden waren], wie schon seit langem« (ERF 54); an diesem Bild hat sich bis heute nicht viel geändert. Nicht fertiggestellte Gebäude prägen das Bild in vielen serbischen Städten und Orten, selbst im Herzen der Belgrader Innenstadt steht seit über zwanzig Jahren der fensterlose Rohbau eines Hochhauses.

Innenstadt

Das Zentrum Belgrads wird von Peter Handke in seinen Texten nur fallweise gestreift. Etwa wird seine Unterkunft zum Thema, das Luxushotel Moskwa, das er als einen »eleganten, mit den Tagen dann geradezu edel wirkenden Straßeneckenbau von der Jahrhundertwende, auf der Terrasse über Save und Donau (serbisch "Dunav")« (ERF 55) schildert. Tatsächlich liegt dieses Gebäude direkt an den Terazije, die ihren Namen dem flusswärts abfallenden Gelände verdanken und befindet sich außerdem in Gehweite des »Kalemegdan, der alten Türkenfestung hoch über dem Zusammenfluß von Save und Donau« (ERF 56), von wo sich ein wunderschöner Ausblick über beide Flüsse eröffnet. »Das McD.-Restaurant,« (UT 43) das auf dem Weg zur Festung liegt und das, wie in Unter Tränen fragend beschrieben, während des Bombardements 1999 »ohne Scheiben, verbrettert, die Leuchtschrift zerschlagen« (UT 43) war, hat mittlerweile wieder geöffnet. Ebenfalls nur wenige Minuten von seinem Hotel entfernt fand Handke auch den »Hauptstadtmarkt, dort auf der vom Zentrum sanft sich zur Save hinabneigenden Terrassenböschung.« (ERF 70) Die Beschreibung dieses Ortes, des »Belgrader Grünmarkt[s]« (DTD 11), wie der Autor den serbischen Namen »zeleni venac« in den Tablas von Daimiel übersetzte, trug dem Autor in der medialen Debatte Spott ein: Gegenstand der Aufregung war unter anderem, dass Handke anstelle von Kriegsgräueln von »andersgelben Nudelnestern und -kronen« (ERF 71, vgl. auch UT 50) gesprochen hatte. Es ist interessant, dass unter all den in der winterlichen Reise beschriebenen Produkten des Marktes gerade die Nudeln solche Erregung auslösten, die in Serbien traditionell selbst gemacht oder eben von kleinen Markthändlern, nicht als industriell gefertigtes Produkt eingekauft werden.

Die Ruine des RTS-Gebäudes

In der Geschichte des Dragoljub Milanović, die vom ehemaligen Direktor von Radio-Televizija Srbije (RTS) erzählt, der für den Tod von 16 Personen beim Bombardement des Fernsehsenders durch die NATO verantwortlich gemacht wurde, beschrieb Handke mit der bis heute unverändert belassenen Ruine einen weiteren Ort im Zentrum Belgrads. »[D]as eher schmale und nicht sehr hohe – zwei oder drei Stockwerke nach meiner Erinnerung – Gebäude des serbischen Fernsehens« ist »am Rande eines großen Parks gelegen« (DGD 17), dem Tašmajdan, und steht außerdem unweit des palastartigen »Machtgebäude[s] der jugoslawischen Bundesregierung« (SNR 10), das heute das serbische Parlament beherbergt. Von der RTS-Ruine und ihrer Umgebung erzählte Handke auch in Unter Tränen fragend. In beiden Texten veränderte er, entgegen der in den Reiseberichten ansonsten so vorbildtreuen Beschreibung, ein bemerkenswertes Detail: Er erzählt von einem vor dem Gebäude stehenden »einzelnen Baum« (UT 152), »[i]n meiner Erinnerung ist es eine Birke« (DGD 23). Tatsächlich wachsen vor dem zerbombten Haus mehrere Bäume (die außerdem keine Birken sind). Ein Blick in die Werkmaterialien verrät aber, dass Handke hier wohl bewusst poetisch »verdichtet« hat: Erst im Zuge der Korrekturen am ersten Lauf der Druckfahnen der Geschichte des Dragoljub Milanović verwandelte er dort die Baumreihe in einen »Einzelbaum« (DGD 23).

Zemun

Auch die Belgrader Vorstadt Zemun war Station von Peter Handkes Reisen. Der Weg dorthin führt, wie erwähnt, durch den Stadtteil Novi Beograd, der sich von der Innenstadt aus gesehen jenseits der Save befindet. Drei Brücken stehen zur Auswahl, um diesen Weg zurückzulegen; Handke und seine Mitreisenden wählten, den Reiseberichten nach, diejenige »Save-Brücke, welche bei den Hauptstädtern "Gazelle" hieß« (ERF 62). Ihren Namen dankt die Autobahnbrücke Gazela – »danke, NATO, daß ihr sie dann verschont habt« (UT 37) – angeblich ihrer Form. In Zemun angekommen besuchte der Autor den »Obst- und Gemüsemarkt,« der mit seinen »zwei großen, säuberlich getrennten Bereichen« auf ihn »gar weiträumig für eine Vorstadt« (ERF 63) wirkte. Dieser Eindruck ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Zemun früher eine selbstständige Stadt war, die erst mit dem Bau Novi Beograds der Hauptstadt angegliedert wurde. Die Zemuner sind bis heute stolz darauf, nicht »in der Stadt« zu wohnen, und man fühlt sich wirklich nicht im kosmopolitischen Belgrad, wenn man »an der Promenade mit den Restaurants« (ERF 64) spaziert. Sie reihen sich entlang der Donau aneinander, die »hier von einer so gewaltigen Breite [ist], daß, […] dort hinten auf dem Wasser, […] sich eine zusätzliche Zone erstreckte, was diese "Dunav" erst wirklich zum "Strom" machte« (ERF 63). Gespeist hat Handke in der Vorstadt »Karpfen«, und zwar »in einem Flußwirtshaus gleichen Namens, "Šaran"« (ERF 65), das in ganz Belgrad für seine gute Küche bekannt ist. Wenn die Hauptstädter einen Tagesausflug nach Zemun machen, begeben sie sich nach dem Flanieren und Essen am Fluss üblicherweise auch »zu der Zemuner Burg hinauf« (ERF 65), wo ein alter Friedhof liegt. Wie auf serbisch-orthodoxen Friedhöfen üblich, sind auch dort »in die Gedenksteine, getreu wohl nach Photos, nur vielfach vergrößert, die Gesichtszüge der Verstorbenen eingraviert« (ERF 65).

Kyrillisch

Die Inschriften dieser Grabsteine sind mehrheitlich in kyrillischen Lettern geschrieben. Obwohl das kyrillische und das lateinische Alphabet laut serbischem Gesetz gleichberechtigt sind und daher auch alle offiziellen Beschilderungen in beiden Schriften verfasst werden, dominiert Kyrillisch in ganz Serbien das Bild, auch bei Schildern von Geschäften. Aufgrund der politischen Entwicklungen, denen die bosnische, kroatische und serbische Sprache – vormals unter dem Namen »Serbokroatisch«, heute mit dem Begriff »BKS« zusammengefasst (vgl. auch ERF 52) – im vergangenen Jahrhundert ausgesetzt war, bedeutet die Verwendung kyrillischer Schriftzeichen in Serbien zwar nicht automatisch Nationalismus, steht aber doch tendentiell für Traditionalismus und Nationalbewusstsein, denn Serbisch ist die einzige Sprache der BKS-Familie, die neben dem lateinischen auch das kyrillische Alphabet verwendet. Die Faszination Peter Handkes für diese Schrift manifestiert sich darin, dass er immer wieder – nicht nur in den Reisebeschreibungen, sondern auch in poetischen Texten und nicht zuletzt in seinen Notizen – einzelne Wörter kyrillisch schreibt. Und so vollzog er seine Ankunft in Serbien, aus Frankreich angeflogen, auch in der winterlichen Reise schriftlich, indem er den Ausblick vom Hotel Moskwa auf den »so gar nicht pariserischen Boulevard, nein "bulevar", nein, "БУЛЕВАР"« (ERF 55) beschrieb.

Vollzieht man Peter Handkes Reisen durch die ex-jugoslawische Hauptstadt nach und folgt den Wegen durch Belgrad in seinen Reisebeschreibungen, so stellt man fest, dass der Autor die Dinge, die es dort zu sehen gibt, sehr genau beobachtet hat und in seinen Darstellungen exakt wiedergibt. Das unterscheidet diese Texte von Handkes poetischen Werken. Dort spielen (real existierende) Orte und ihre Schilderungen eine ebenso wesentliche Rolle, doch der Autor nutzt die Freiheit der Dichtung, um Dinge an den beschriebenen Plätzen seinem poetischen Anspruch entsprechend zu verändern. In diesen Reiseberichten jedoch, so scheint es, ist sein hauptsächliches Anliegen, der westlichen Welt – den »Fernfuchtlern« (ERF 122) – zu vermitteln, wie die Gegenden, die er bereist hat, wirklich sind und aussehen (eine Ausnahme stellt der Baum vor dem RTS-Gebäude dar; hier hat Handke ge- und verdichtet, um einen Standpunkt deutlich zu machen.) Entstanden in einer Zeit, zu der aufgrund von Krieg und Gefahr kaum ein Mittel- oder Westeuropäer die balkanischen Läder besuchte und besichtigte, versuchen die Reise-Texte, ein »Bild« dieser Weltregion zu zeigen, das nicht nur aus Nationalismus und Bomben besteht. Dieses Bild hat auch heute, bis zu 20 Jahre später, noch Gültigkeit. (Vanessa Hannesschläger)

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