Entstehungskontext

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Die Werkentstehung von Versuch über die Jukebox fällt in den Zeitraum von Handkes »Weltreise«, während der er von 9. November 1987 (Handke / Unseld 2012, S. 563) bis 1. Juli 1990 (Handke / Unseld 2012, S. 562) über keinen festen Wohnsitz verfügte. Verlagsangelegenheiten erledigte Handke im Rahmen von persönlichen Treffen in Frankfurt am Main oder von unterwegs auf dem Postweg. Die Korrespondenz mit seinem Verleger Siegfried Unseld über seine Arbeit ist aus diesem Grund eher unregelmäßig oder über längere Zeiträume nicht brieflich belegt. Einige Tage vor seiner Abreise nach Spanien schickte Handke am 15. November 1989 aus Frankfurt seinem Freund Hermann Lenz die Buchbesprechung zu dessen Erzählung Jung und Alt »zur geflissentlichen Kenntnisnahme« und teilte ihm mit, dass er »nach einer friedlichen Woche in Frankfurt[,] wieder einmal im leicht bänglichen Aufbruch« sei (Handke / Lenz 2006, S. 246).

Vorgeschichten

Doch bereits lange vor diesem Aufbruch in den selbstgewählten Schreibort Soria spielten Musikautomaten, Musikboxen oder eben Jukeboxen wiederkehrend eine Rolle in Peter Handkes Erzählungen. Ein sehr früher Beleg ist beispielsweise die Beschreibung einer Fotografie (ÖLA SPH/LW/S103) in Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, die Peter Handke im September 1968 bei seinem Schreibaufenthalt in Neumarkt an der Raab bzw. Jennersdorf anfertigte: »Er erblickte einen anderen Ausschnitt mit der Musicbox, durch die langsam ein Lichtpunkt wanderte, der dann bei der gewählten Nummer stehenblieb, daneben den Zigarettenautomaten, darauf wieder einen Blumenstrauß« (DAT 79). »Jukebox-Notizen« kann man bereits in den 1970er-Jahren feststellen, das eindrucksvollste Beispiel ist eine detailreiche Zeichnung, die während der Karstreise am 13. August 1978 entstand (vgl. Abbildung). Weitere Belegstellen liefern, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und abgesehen von Aussagen in Interviews oder den Journalen, die Werke Der kurze Brief zum langen Abschied (1972), Wunschloses Unglück (1972), Langsame Heimkehr (1979), Der Chinese des Schmerzes (1983), Die Wiederholung (1986), Nachmittag eines Schriftstellers (1987), Versuch über die Müdigkeit (1989) und Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994).

Dass sich das Thema zum eigenständigen Schreibvorhaben verdichtete, wird im Notizbuch vom 15. Dezember 1988 bis 17. Februar 1989 deutlich, das erstmals den Titel am Vorsatzblatt trägt. Eine Notizbuchaufzeichnung vom 19. Oktober 1987 oder ein Journaleintrag vom 14. März 1988 sind exemplarische Belege, dass die Jukebox auch im weiteren zeitlichen Vorfeld ein wiederkehrendes Objekt der Aufmerksamkeit für Handke darstellte: »Gestern in Lehen: [...] als von der Jukebox "Lodi" von den CCR kam, dachte ich, dieses Lied ("somewhere I lost connection") passe gut mit dem Kirchenlied, gesungen von dem einsamen Sänger in Beaune, zusammen ("eo miseri")« und: »[...] und auf dem Nachtflug von Tokyo erschienen die Sterne zeitweise unten, und jetzt aus der Jukebox: "A Blues Man never travels a road without a pistol", und was war doch die Essenz des Blues? – "Good man feeling bad")« (14. März 1988, G 129; im Notizbucheintrag hierzu hatte Handke lediglich die Songzitate notiert, die Jukebox erst nachträglich im Journal erwähnt).

Wie beim Versuch über die Müdigkeit, der sich bereits in der Geschichte des Bleistifts ankündigte (vgl. DGB 92), könnte die Idee zum Versuch über die Jukebox ebenfalls weiter zurückliegen. Jedenfalls endet der Versuch über die Müdigkeit mit den Zeilen vom 25. März 1989: »In ganz Spanien gibt es doch keine Jukebox. Hier in Linares gibt es eine, eine sehr seltsame. Erzähl. Nein. Ein andermal, in einem Versuch über die Jukebox. Vielleicht.« (VM 78) Auffällig ist unter diesem Aspekt der Vorankündigung auch das am 20. September 1989 fertiggestellte Filmskript Die Abwesenheit, in dem, wenige Wochen vor der Arbeit am Versuch, eine Jukeboxszene verarbeitet ist. Diese weist starke Anklänge an zwei Notizen vom 10. Februar und 17. September 1989 auf: »Der Soldat, während seine Eltern Platz nehmen und, als seien sie gewohnte Gäste, stumm serviert werden, geht zur Jukebox. Diese, in dem kargen Raum allein, leuchtet und blinkt in allen Farben. Die Bezeichnungen der meisten Platten sind getippt, einige wenige aber in Handschrift, übergroßen, wie gemalten Buchstaben.« (DAS 25; vgl. VJ 56-57 und 108-109)

Notizbücher

Konkret lässt sich die Beschäftigung mit dem Werkprojekt vor, während und nach der Niederschrift der ersten Fassung anhand von sechs Notizbüchern zwischen dem 15. Dezember 1988 und dem 1. Juli 1990 dokumentieren. Da diese der Forschung ausschließlich am Deutschen Literaturarchiv Marbach zugänglich sind, konnte die Auswertung bislang nur in Stichproben bzw. indirekt über die daraus veröffentlichten Journaleinträge in Gestern unterwegs erfolgen. Vom 15. Dezember 1988 bis zum 17. Februar 1989 übernahm Handke elf »Jukebox«-Einträge in Gestern unterwegs, die an Stationen seiner Weltreise in England, Schottland und Frankreich entstanden. Bemerkenswert ist, dass dieses Notizbuch bereits ein Jahr vor Schreibbeginn den Projekttitel am vorderen Vorsatz aufwies. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Handke den Versuch über die Jukebox ursprünglich früher geplant hatte. In dem darauffolgenden dünnen Notizblock mit Aufzeichnungen aus Frankreich und Spanien von 17. Februar bis 19. März 1989 scheint, dem Journal Gestern unterwegs zufolge, keine einzige Notiz einen Bezug zum Thema aufzuweisen. Da Handke in Linares seinen Versuch über die Müdigkeit verfasste, enthält auch der Notizblock vom 9. März bis zum 1. April 1989 lediglich die Bemerkung vom 17. März, dass er die »erste spanische Jukebox« entdeckt habe.

Zumindest zwei für die Textgenese relevante Einträge weist auch das Notizbuch vom 1. April bis zum 9. August 1989 auf, einer davon, am 18. Juni, beschreibt immerhin mit einer Bahnhofsbar einen prototypischen Schauplatz: »Ich allein dann auf dem Bahnsteig von Monfalcone, mit dem Blick in die steinigen Karstwälder, in der Jukebox der Bahnhofsbar der Anchorage-song, "anchored in Anchorage, Alaska ..."« (G 409, vgl. VJ 118). Den nahenden Schreibbeginn dokumentiert das Notizbuch vom 9. August bis zum 20. Oktober 1989. Gleich fünf »Jukeboxnotizen« übernahm Handke daraus in sprachlich überarbeiteter Form in das Journal Gestern unterwegs; zugleich lassen sich diese bereits deutlich im Text der Erzählung wiederfinden. So korrespondiert der Journaleintrag »Die leere Stelle in jenem Café am Rand des Stadtparks in Graz, wo einst die entscheidende Jukebox meines Lebens stand ("Things We Said Today"), und beim Gedanken daran eine energische Wehmut« (G 470) mit der Erinnerung an das »Jukebox-Caf[é] [...] am Rande des Stadtparks« (VJ 87). 

Das Notizbuch von 20. Oktober 1989 bis 8. Februar 1990 begleitete die Niederschrift der ersten Textfassung, dementsprechend intensivierte Handke darin seine Aufzeichnungen zum Projekt. Nicht nur der Projekttitel ist hier – erstmals wieder seit dem Notizbuch vom Dezember 1988 – am vorderen Vorsatz eingetragen, ebenso das spätere Motto zur Erzählung, »DAR TIEMPO AL TIEMPO«. Am 1. Dezember 1989, noch vor der Ankunft in Soria, reflektiert ein Eintrag den nahenden Schreibbeginn: »Form, Licht der Wahrheit; "Formlicht" (die Jukeboxerzählung am sich nähernden Horizont)« (G 491), und am folgenden Tag thematisierte Handke seine damit verbundenen Anfangsschwierigkeiten: »Meine Scheu, wie jetzt wieder, vor dem Schreiben, Ans-Schreiben-Gehen, Mich-dem-Schreiben-Nähern: Wo haben die Kleinen, aber auch die "ganz" Großen ihre Scheulosigkeit her?« (G 491) Angekommen in Soria schien er noch unsicher: »Und doch: "Versuch über die Jukebox" als Erzählung, durchsetzt von Fragen! (morgen?)« (G 493), bis er – nach einem Besuch in Logrono zurückgekehrt – am 10. Dezember endlich notierte: »Nicht Formwille, sondern Formnotwendigkeit (mit dem VüdJ begonnen)«. Die zwanzig Tage dauernde Niederschrift ist durch zahlreiche Notizbucheinträge begleitet, unter anderem die Zeichnung eines Jukebox-Bedienfeldes am 23. Dezember 1989. Zum Abschluss der Arbeit am 30. Dezember vermerkte Handke beiläufig in Parenthese: »(in der Nacht zu schreiben angefangen und dann gegen 10? den VüdJ beendet)«. Danach ist eine kurze Phase des Korrigierens bis zum 7. Jänner 1990 dokumentiert, und im darauffolgenden Notizbuch am 17. Februar 1990 schrieb Handke, wieder in Frankfurt: »Schreiben: Sich hineinbegeben in die Enge und herauskommen mit der Weite (Klettenbergstr., Nachmittag, nach dem Lesen der Fahnen des VüdJ)«, womit die Aufzeichnungen zur Jukebox-Thematik bis auf Weiteres abrupt enden.

Erste Textfassung

Das Bleistiftmanuskript mit der ersten Fassung der Erzählung schrieb Handke während eines Aufenthaltes in der spanischen Stadt Soria vom 10. bis zum 30. Dezember 1989. Die Entscheidung für diese Stadt soll bereits im Frühjahr 1989 gefallen sein, »als er Spanien überflogen und im Flugzeug einen Bericht über Soria gelesen hat« (Hage 1999, S. 191). Seinem Lektor Raimund Fellinger teilte er noch am Tag der Fertigstellung mit: »vor nicht einmal 1 Stunde bin ich endlich fertig geworden. [...] Ich rufe bald an.« Am 3. Jänner 1990 meldete er sich bei Siegfried Unseld mit seiner »1. Karte seit November« (Handke / Unseld 2012, S. 559) aus Avila, das etwa zwei Stunden von Soria entfernt, westlich von Madrid liegt; am 5. Jänner schrieb er nach langer Unterbrechung wieder an Hermann Lenz aus Girona im Nordosten Kataloniens, nahe der französischen Grenze: »nach Wochen schreibe ich wieder ein paar Karten« (Handke / Lenz 2006, S. 246), und am 10. Jänner dokumentiert eine Postkarte an Franz Weinzettl einen Aufenthalt in Besançon (ÖLA SPH/LW/Briefe von Peter Handke: Weinzettl, Franz). Zahlreiche weitere Zwischenstationen seiner Reise sind dem Notizbuch, das er vom 20. Oktober 1989 bis 8. Februar 1990 führte, zu entnehmen. Das Originalmanuskript von Versuch über die Jukebox übergab Handke einer Chronik-Notiz Unselds zufolge persönlich bei einem Frankfurt-Besuch am 12. Jänner 1990 (Handke / Unseld 2012, S. 560), eine Kopie hatte er zuvor schon an Raimund Fellinger geschickt und diesen am 6. Jänner mittels Postkarte gefragt: »vielleicht hast du inzwischen mein Manuskript?«

Verlagsabschrift zur zweiten Textfassung und Druckfahnen

Die Abschrift des mit Bleistift verfassten Manuskripts konnte folglich frühestens ab dem 13. Jänner erfolgen, musste aber vor dem 5. Februar bereits fertiggestellt sein, da an diesem Datum die ersten Druckfahnen ausgegeben wurden. Am 16. und 17. Februar kam es zu einem weiteren Besuch Handkes in Frankfurt, bei dem er die Druckfahnen korrigierte und mit seinem Lektor besprach (Handke / Unseld 2012, S. 560; vgl. DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 067). Wenige Tage darauf kam es zu einer Verstimmung zwischen Autor und Verleger, da Handke zwischenzeitlich ohne vorhergehende Absprache mit Unseld sein Buch Noch einmal für Thukydides mit dem Residenz Verlag fixiert hatte. Daraufhin brach der Briefkontakt zwischen beiden für mehrere Wochen bis zum 17. Juni ab (Handke / Unseld 2012, S. 560).

Publikation und Rezeption

Die Erstausgabe von Versuch über die Jukebox erschien am 26. Juli 1990 (Handke / Unseld 2012, S. 561) und wurde laut Verlagsangaben am 31. Juli an den Buchhandel ausgeliefert. Die erste Seite des Bleistiftmanuskripts wurde als Illustration für die Umschlaggestaltung verwendet. Mit einem Brief am 19. Juli übersandte Siegfried Unseld seinem Autor »die ersten beiden Exemplare«, hob die äußere Gestaltung hervor und bedauerte lediglich, »daß die gezeichnete Jukebox in der Klappe verschwindet. Aber so war es ja Dein ausdrücklicher Wunsch.« (Handke / Unseld 2012, S. 560) Dass »[d]ie Vorbestellungen beachtlich« seien und der »buchhändlerische Erfolg [...] übertr[o]ffen« werde, davon war Unseld anlässlich der Herausgabe überzeugt. Am 8. August folgte noch der von Unseld unterzeichnete Vertrag zur Jukebox, den Handke bereits an seine neue Adresse in Chaville erhielt (Handke / Unseld 2012, S. 561).

Zwei Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen wurde ein vollständiges Faksimile der Bleistiftmanuskripte aller drei Versuche in einer vom Autor signierten Auflage von 1000 Exemplaren bei Suhrkamp veröffentlicht. Blatt 34 wurde darüber hinaus ein weiteres Mal einzeln faksimiliert (Liepold-Mosser 1998, S. 114). In Relation zu Peter Handkes umstrittenen Texten zum Jugoslawienkonflikt Mitte der 1990er-Jahre attestierte Ulrich Schönherr dem Versuch über die Jukebox nachträglich eine »vergleichsweise geringe Beachtung« (Schönherr 2000, S. 57). Unter den positivien Kritikerstimmen kam jedoch Volker Hage am 10. August 1990 in der Zeit zu dem Schluss: »Unter all den Nebenwerken und Nebenbei-Büchern [...] zählt dieses Werk zum Glänzendsten und Bewegendsten.« (ck)

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