Aix-en-Provence

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Im Spätsommer 1979, nachdem er eine »Zwischenzeit, ein Jahr ohne Ortsansässigkeit« (DLS 43) durchlebt hatte, zog Handke nach Salzburg, wo er am 4. März 1980 notiert: »heute "Die Lehre der Ste Victoire" angefangen« (ÖLA SPH/LW/W96, S. 4). Ausschlag dafür gaben letztlich zwei Reisen nach Aix-en-Provence, dem Ort, »wo ein großer Künstler gearbeitet hat« (DLS 45), auf Basis dessen ästhetischer Theorie und Bilder Handke zu einer neuen, eigenständigen Poetik gefunden hat. Der Maler hieß Paul Cézanne und das Motiv war die Montagne Sainte-Victoire, eine frei stehende Kalkscholle im Osten von Aix, die mit einer Höhe von rund tausend Metern die umliegende Hügellandschaft weithin dominiert (Abb. 1).

Die einen großen Teil der Lehre der Sainte-Victoire ausmachenden, fast touristischen Wegbeschreibungen sind von Handke explizit so gewollt, und tatsächlich kann man mit seinen »Weg- und Restaurantempfehlungen«, wie er im Notizbuch vermerkt (ÖLA SPH/LW/W96, S. 8), das Buch auch als einen Reiseführer lesen. Erfahren hat Handke die Gegend im Zuge zweier vergleichsweise kurzer Aufenthalte in Aix, von jeweils drei vollen Tagen, die er für ausgedehnte Wanderungen benutzte. Anhand der am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek vorhandenen Materialien lassen sich die Wege sehr genau rekonstruieren, zumal Handke – durchaus seiner neuen Poetik entsprechend (vgl. DLS 78) – seinen Notizen regelmäßig Orts- und manchmal auch Zeitangaben hinzufügt (Abb. 3). Auf einer Wanderkarte der Region sind sogar penibel die Routen des ersten Besuchs, vom 3. bis 5. Juli 1979, eingetragen (Abb. 4).

Seinen ersten Spaziergang, der in Summe immerhin vierzig Kilometer ausmacht, beginnt Handke am Prachtboulevard von Aix, »unter den Platanen des Cours Mirabeau, die oben zu einem geschlossenen Dach verwachsen sind« (DLS 41 u. Abb. 5), bevor er die Stadt entlang der route départementale 17 verlässt: »Die Straße verlief zunächst in Wellen und Kurven, und führte insgesamt leicht bergan. Sie war schmal, und der Gehsteig hatte schon vor dem Stadtrand aufgehört, so daß es beschwerlich werden konnte, den Autos auszuweichen« (DLS 42 u. Abb. 6). Der Weg lohnt sich aber bereits einen guten Kilometer später, denn »der Berg wird schon vor Le Tholonet sichtbar. Er ist kahl und fast einfarbig; mehr ein Lichtglanz als eine Farbe« (DLS 45 u. Abb. 7). Er passiert das Dorf Le Tholonet und steigt auf die »Hochebene des Philosophen« auf; sie »wirkt unfruchtbar und ist auch fast unbewohnt« (DLS 50 u. Abb. 8) und erstreckt sich über die ganze Länge der Sainte-Victoire: »Ich ging, immer angesichts des Berges; blieb manchmal unwillkürlich stehen. In einer trogförmigen Kammscharte, wo der Himmel besonders blau war, sah ich den idealen Paß« (ebd. u. Abb. 9). Am späteren Nachmittag – im Notizbuch ist »16h« vermerkt – ist Handke »froh, in Puyloubier unter den Platanen eines provençalischen Dorfes zu sitzen und in Gesellschaft Fremder ein Bier zu trinken« (DLS 52f. u. Abb. 10). Die Wanderung ist aber nicht zu Ende, denn Handke geht den gesamten Weg zu Fuß zurück, bereits merklich ermüdet: »Außerhalb von Puyloubier, schon Richtung westwärts, setzte ich mich in einen grasbewachsenen Hohlweg, der durch einen Weinberg führte, und ließ mich von der Sonne bescheinen. Wohl auch müde von dem vielen Gehen, schlief ich kurz ein« (DLS 61 u. Abb. 11). Er kommt erst spätabends an und bemerkt »dann, in Aix: die 40 Km Gehen waren zu viel« (ÖLA SPH/LW/W91, S. 127).

An den restlichen Tagen, wie auch beim zweiten Aufenthalt, unternimmt Handke keine derartigen Gewaltmärsche mehr, sondern kleinere Runden. Er besucht etwa das Atelier Cézannes, wo »seine Dinge zu Reliquien geworden« waren (DLS 63 u. Abb. 12 u. 13) und den Jas de Bouffan, den ehemaligen Landsitz der Familie Cézanne (vgl. DLS 64 u. Abb. 14 u. 15). Oder er isst in Le Tholonet im Restaurant Chez Thomé – heute noch ein Tipp von Einheimischen –, von wo man im roten Mergelboden Erosionsformen sieht, die »im kleinen genau jenen ausgedehnten Brachgebieten in South Dakota, wo viele Western spielen und die einst von den darin Umherirrenden Badlands getauft worden sind«, entsprechen (DLS 113 u. Abb. 16).

Trotz dieser realistischen Wegbeschreibungen und der vielen Details bleibt aber das Buch immer noch Fiktion, wie sich an den Werkmaterialien klar zeigen lässt. (Georg Schiffleithner)

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