Clamart, 53 rue Cécile Dinant (1976–1978)

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Ende Juni 1976 zog Peter Handke aus seiner Wohnung im 16. Pariser Arrondissement aus, übergab seine Tochter Amina während der Sommerferien ihrer Mutter Libgart Schwarz und unternahm von Mitte Juli bis Ende August eine Reise quer durch Österreich, die in den ersten Notizbüchern mit dem Titel »Ins tiefe Österreich« dokumentiert ist. Es handelte sich um ein Schreibprojekt, das Handkes Arbeit in den folgenden Jahren bestimmen sollte. Nach seiner Rückkehr werde er, wie er seinem Freund, dem Schriftsteller Hermann Lenz, im Mai 1976 schrieb, »in eine neue Wohnung ziehen« (Handke / Lenz 2006, S. 100), von der er aber zu diesem Zeitpunkt noch nichts Genaueres wusste.

Wohnungssuche und Umzug

Auf Wohnungssuche dürfte sich Handke erst ein Monat vor dem geplanten Umzugstermin gemacht haben. Am 24. August 1976 vermerkte er in seinem Notizbuch: »Auf Wohnungssuche: ich existiere gar nicht mehr« (ÖLA SPH/LW/W13, DGW 207). Es folgen bis 10. September mehrere Einträge über Besichtigungen, Treffen mit Agenturangestellten, Hausbesitzern oder Maklern, die er in den Notizen »Raffzähne« (DGW 208) nennt, aber kein Hinweis auf eine gefundene Wohnung. Handke muss das Mietshaus in der Rue Cécile Dinant 53 im Pariser Vorort Clamart Mitte September gefunden haben, vereinbarter Einzugstermin war der 1. Oktober 1976. Für Amina gab es im angrenzenden Ort Meudon eine Schule. Da der Unterricht bereits am 20. September begann (DGW 221), wohnten sie zuvor »über 10 Tage« in einem Hotel in Meudon, von wo Handke am 30. September 1976 Hermann Lenz brieflich über die bevorstehende Übersiedlung benachrichtigte: »Morgen werden wir also in das Haus umziehen, das ich gemietet habe, im Nachbarort Clamart, einer stillen Vorstadt, und das Haus ist ein Steinhaus von ca. 1900, man sieht die unbegradigten Steine nackt und schön, und hinter dem Haus ist ein recht großer Garten, in den eigentlich nur der Himmel hineinschaut. [...] [N]ur jetzt, die ersten 10 Tage, wird da noch ein jüdisches Ehepaar mit 2 Kindern mitwohnen, im 2. Stock, die Eigentümer, die dann als Lehrer in den Senegal gehen. Ich bin ein bißchen beklommen, wie das gehen wird, 10 Tage mit fremden Leuten. In ein paar Tagen werden sie, wie der Mann mich warnte, Jom Kippur begehen, fastend in den oberen Räumen. Nun, ich werde auch nichts kochen, schon, um sie nicht zu reizen.« (Handke / Lenz 2006, S. 102)

Haus und Garten

Das Haus befindet sich in einer ruhigen Siedlungsstraße, nur ungefähr fünf bis zehn Minuten zu Fuß entfernt vom Ortskern, wo es Geschäfte und Bars gibt, und vom Bahnhof Clamart mit den Vorortezügen nach Meudon oder Paris und den »da schon in Reisegeschwindigkeit durchschießenden Züge[n] in die Bretagne« (MJN 297). Es ist ein herrschaftlich wirkendes Steinhaus mit einer gelblichen Fassade aus unverputztem »Sandstein der Seine-Hügel« (MJN 301) – dem ortsüblichen Baumaterial – mit großen weißen Sprossenfenstern und einer breiten Stiege zum Eingangstor. Viele Häuser des Ortes sehen ähnlich aus, und durch »das vordringliche Gelb konnten alle diese Fassaden selbst an einem Regenmorgen den Anschein von Sonne geben« (MJN 302f.). Zur Straße hin ist das Haus von einem kleinen Vorgarten und einem geschlossenen, weiß-gestrichenen Eisenzaun abgeschirmt. Heute verdecken auch Bäume im Vorgarten den Blick auf das Gebäude. Hinter dem Haus erstreckt sich ein großer, mit einer Ziegelsteinmauer zu den Nachbargrundstücken abgegrenzter Garten mit mehreren Obstbäumen. Fotos und Polaroids aus den Jahren 1976–78 zeigen auch eine kleine Holzscheune und einen Gartentisch, an dem Handke mit verschiedenen Freunden sitzt. Auf den hinteren Garten konnte man bereits von der Straße aus sehen, da das Haus »durchsichtig« war, wie der Erzähler in Mein Jahr in der Niemandsbucht es beschreibt – »[d]urch die Eingangstür und die Straßenfenster scheint hinten das Gras des Gartens durch, mit dem Apfelbaum dort« (MJN 297).

Nur auf wenigen Fotos ist das Haus mit seinem Inventar abgelichtet. Auf den Bildern sieht man einen großen Kamin, der in Briefen, in den Notizbüchern und Erzählungen immer wieder erwähnt wird, ein Ledersofa mit einem kleinen Couchtisch, hinter denen das Filmplakat von Die linkshändige Frau hing, einen Schaukelstuhl oder einen Schreibtisch. Insgesamt macht alles den Eindruck, als wäre Handke erst am Einziehen. Die Atmosphäre musste dennoch angenehm gewesen sein. Am 22. Juni 1978 notierte Siegfried Unseld, der Handke damals (eineinhalb Jahre nach dem Einzug in das Haus) wohl das erste Mal in Clamart besucht hatte, in seinem Reisebericht: »Die drei Etagen großzügig geschnitten, Marmorbad, Kamin, Garten mit Kirschen und Weichseln; hier läßt es sich leben und, wie man an Handkes Schreibtisch sieht, auch arbeiten.« (Handke / Unseld 2012, S. 346)

Clamart in Handkes Werken

Vom Entschluss, aus seiner »Metropole« (MJN 291) in einen Vorort von Paris zu ziehen, vom Haus in Clamart und den Wegen in den Vororten erzählte Handke erst wesentlich später in seinen Werken Kindergeschichte (1981), Gedicht an die Dauer (1986) und vor allem in Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), die in manchen Schilderungen an Handkes Lenz-Brief denken lassen. Der Ich-Erzähler erinnert sich darin, wie er nach der Entdeckung der Vororte von Paris (MJN 290ff.) »beschloß, dort irgendwo zu wohnen, für eine Zeitlang«: »So mietete ich von Leuten, die für ein paar Jahre nach Afrika wollten, ein Haus in einer mir noch unbekannten Gegend. […] Das Haus war noch von den Eigentümern besetzt, aber wie war ich ungeduldig, daß sie es räumten und in den Senegal oder sonstwohin verschwänden. Gab es das, daß einer verrückt oder heiß sein konnte nach einem Wohnort, noch dazu einem, vor dem die Freunde, denen ich ihn eilig, gleich nach dem Mietvertrag, mit Stolz vorführte, insgesamt eher einsilbig wurden?« (MJN 294ff.)

Angst und Depression

Nachdem das jüdische Ehepaar ausgezogen war, bemerkte Handke bei sich trotz seiner großen Vorfreude auf das Haus (MJN 296) und der in Briefen an seine Freunde Alfred Kolleritsch und Hermann Lenz betonten Freude am dort Wohnen eine Ängstlichkeit, die er ebenfalls in Briefen oder Notizen erwähnte (DGW 244ff.) und die er später in Mein Jahr in der Niemandsbucht beschrieb: »Die ersten Abende in dem Haus draußen im Vorort, außerhalb der Mauern, bemächtigte sich meiner freilich eine Bangigkeit, wie sie eher in die Kindheit gehörte, wenn da einer der Hausgenossen, auch nur wenig über die Zeit, abwesend war. Hier jetzt bekam ich diese Zustände, obwohl alle da waren. Ich räumte die fremden Gegenstände weg oder schob sie, wie die afrikanischen Maskenfiguren, zusammen in eine Ecke, schaltete in sämtlichen Räumen bei der ersten Dämmerung die Lichter ein, hatte Angst, hinunter in die vielverzweigten Keller zu gehen […], sägte mit Heftigkeit, über den Bedarf hinaus, Holz in der hintersten Gartenecke und machte an jenen lauen Septemberabenden Feuer in dem Kamin, und […] wurde […] müde und reizbar, ertrug mein […] gebanntes Nichtstun nicht.« (MJN 299) Sein Problem umkreiste er in seinen notierten Selbstreflexionen und erklärte es sich schließlich am 11. Oktober 1976 mit dem Alleinsein: »Nach Monaten immer in Gesellschaft oder, wenn allein, dann immer unterwegs: wieder, wie üblich, vergessen, wie nervös, gelinde gesagt, das Alleinsein macht: ein Gefühl der Schwerhörigkeit bei Tag, ein Gefühl der Hellhörigkeit bei Nacht; Gespensterseherei Tag und Nacht – und das Schuldgefühl des Alleinseins: trotz Lesens, Schauens, Arbeitens, Musikhörens eine Anwandlung wie damals in der Studentenzeit: nichts zu erleben, müßig, dumm und faul außerhalb des Laufs der Dinge zu vegetieren« (DGW 245). Diese Art Alleinsein nannte Handke in einem im Juli 1978 in Clamart geführten Gespräch mit Hermann Schreiber »lebensgefährlich« und meinte, »man braucht es, mindestens einmal am Tag wahrgenommen zu werden, eine Aufmerksamkeit zu spüren«. Die »Todesgefahr des Alleinseins« sei »ans Haus gebunden zu sein, und niemand nimmt einen wahr« (Schreiber 1978). Der Zustand der Depression, in dem er auch mit der Tochter kaum sprechen konnte, besserte sich nur langsam, er führte schließlich zu einer, wie er es in den Notizen nennt, »Katastrophe des Alleinseins«, die bereits bei Kleinigkeiten »akut« (DGW 287) wurde. Auch noch zwei Monate nach dem Einzug klagte er Hermann Lenz: »Hier ist es schön (sage ich mir), aber ich habe es schwer mit dem Alleinsein. Seit einigen Tagen kann ich nicht einmal einen Brief mehr schreiben. Dieser ist der erste und hoffentlich ein kleiner Wiederanfang.« (Handke / Lenz 2006, S. 108)

Wege nach Meudon

Handkes Alltag in Clamart bestimmten unter anderem die täglichen Wege nach Meudon, wo er seine Tochter von der Schule abholte. Sie verliefen entlang der Vorortelinie oder durch die großen, zwischen beiden Orten liegenden Waldgebiete. Dabei notierte und fotografierte er viel. Die Fotos von seinen Wegen zeigen die Bahngleise, das Viadukt vor Meudon oder die Siedlungshäuser zwischen den Orten. Er kaufte sich eigens eine geologische Karte der Region, um die Gegend zu verstehen und »gegenwärtig« (MJN 301) zu haben. Das tägliche Gehen half gegen die Depression (MJN 292ff.). Alfred Kolleritsch schrieb er am 17. Jänner 1977, dass ihm die langen Wege »an der Eisenbahnlinie entlang, indem ich in den Nachbarort Meudon gehe, bergauf, bergab, um Amina von der Schule abzuholen« gegen die »Heimatlosigkeit« und »Umgebungslosigkeit« helfen. »Man hat dann manchmal beim Gehen das Gefühl, dass man gar nicht mehr wollen kann, und eh schon nichts mehr will.« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 102) Hermann Lenz gegenüber nannte er das tägliche Gehen »ein Lebensbedürfnis«. »Nach drei Stunden Gehen wird die anonymste Gegend lebendig. Und die Wege hier sind sehr schön: es kommen so viele Geh- und Blickmöglichkeiten vor wie nur bei einer langen Reise.« (Handke / Lenz 2006, S. 114-115) Später schrieb er ihm: »Ich glaube, es kann hier immer schön sein, auch im Winter. Und durch die Wälder kann man dann genau so gehen. Es regnet nur in der Regel viel.« (Handke / Lenz 2006, S. 117)

In Clamart entstandene Werke

Ende August 1976, also kurz vor seinem Einzug in Clamart, war Handkes Erzählung Die linkshändige Frau im Suhrkamp Verlag erschienen und rangierte von Oktober 1976 bis März 1977 auf den vorderen Plätzen der Spiegel-Bestsellerliste. In Clamart begann er neben den Korrekturen für eine Neuauflage des Buchs (Handke / Unseld 2012, S. 310ff.) auch die Verfilmung der Erzählung zu organisieren, bei der er selbst die Regie übernehmen wollte. Mit der Arbeit an der Erzählung hatte sich seine Arbeitsweise verändert, seit Anfang 1976 versuchte er alle Bewusstseinseindrücke – Beobachtungen, Reflexionen, Zitate aus Gehörtem und Gelesenem sowie Ideen und Notizen für geplante Bücher – sofort in journalartig geführten Notizbüchern festzuhalten. Bereits im Oktober 1976 fragte er Alfred Kolleritsch um seine Meinung zu einer Veröffentlichung solcher Notizen, für die er bereits erste Teile abgetippt hatte. 1976 wurden schließlich in den Literaturzeitschriften text + kritik, manuskripte, protokolle und Merkur erste Auszüge unter dem Titel Das Gewicht der Welt (Materialien zu nichts Bestimmtem) oder Werktagsgefühle abgedruckt. Im Herbst 1977 erschien schließlich Handkes erstes Journal Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975-März 1977) im Residenz Verlag. Es enthält etliche Einträge aus der Zeit in Clamart.

Ohne für den Leser erkennbare Spuren in seinen täglichen Notizen zu hinterlassen, beschäftigte er sich in der Zeit in Clamart mit der Entwicklung und Konzeption seines »dicken« Romans mit dem Projekttitel »Ins tiefe Österreich«, worin er die Rückkehr des Helden vom Norden Amerikas über Europa zu seinem Geburtsort und weiter nach Osteuropa erzählen wollte und aus dem später die Tetralogie Langsame Heimkehr wurde. Sobald Schulferien waren, übernahm Libgart Schwarz die Tochter, und Handke konzentrierte sich auf sein großes Schreibprojekt. Zum Jahreswechsel 1976/77 reiste er für seine Recherchen alleine nach Amerika und verbrachte Neujahr in Denver.

Im März und April 1977 drehte Handke in seinem Haus in Clamart den Film Die linkshändige Frau, das heißt er führte selbst Regie, assistiert von seinen beiden Freunden Friedhelm C. Maye und Peter Stephan Jungk, dem Kameramann Robby Müller und dem Cutter Peter Przygodda aus dem Team von Wim Wenders, dessen Produktionsfirma Road Movies zusammen mit den Fernsehsendern WDR und ORF die Produktion übernahm. Die Fotos von Ruth Walz von den Filmaufnahmen zeigen das Filmteam und die Schauspieler im Haus oder auch an Orten zwischen Clamart und Meudon. Im Juli 1977, im Anschluss an die Dreharbeiten, reiste Handke zusammen mit Friedhelm Maye nach Amerika, um wieder für seinen Roman zu recherchieren. Nach seiner Rückkehr am 15. Juli schnitt er im Studio von Wim Wenders in München den Film. Der Film wurde schließlich im Oktober fertig, am 3. November fand, wie Siegfried Unseld in seiner Chronik vermerkte, »bereits eine kleine private Filmvorführung« statt. (Handke / Unseld 2012, S. 325). Handke erhielt am 17. Februar 1978 den Bambi-Preis für die beste deutsche Regie; im Mai 1978 wurde der Film als offizieller Beitrag der Bundesrepublik Deutschland bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes gezeigt.

»Kleine Weltreise«

Nach nicht einmal ganz zwei Jahren verließ Handke Clamart wieder. Der Aus- bzw. Umzug fand Ende Juli 1978 statt, wobei unkar ist, ob er seine Möbel bei einer Spedition zwischenlagerte oder sie nach Berlin übersiedelte, wo seine Tochter ein Jahr lang bei ihrer Mutter wohnte. »So beschloß er«, liest man in Kindergeschichte, »sich für ein Jahr von dem Kind zu trennen. Dieses blieb bei der Mutter, die ja nie eine Außenstehende geworden war, und ging dort, wieder im Herkunftsland, sogar in der Geburtsstadt, auch zur Schule.« (K 92) Handke selbst machte sich auf zu einer längeren Reise, um in seiner Arbeit, wie er schrieb, »aufs Ganze zu gehen; und das schien ihm eben nur möglich ohne Abgelenktsein, in der alles sonst ausschließenden Konzentration.« (K 92) In dieser Zeit des Unterwegsseins zwischen Amerika und Europa entstand sein Roman Langsame Heimkehr. Erst Ende August 1979 wurde er wieder sesshaft und zog mit seiner Tochter in eine Wohnung am Mönchsberg in Salzburg.

Nachträgliche Betrachtungen von Clamart

Trotz der verhältnismäßig kurzen und von vielen Reisen unterbrochenen Wohnzeit blieben Clamart und seine Umgebung wichtig. Handke besuchte diese Gegend in seinen Salzburger Jahren immer wieder. In dem 1986 entstandenen Gedicht an die Dauer erwähnte er die Quelle »Fontaine Sainte-Marie in dem Vorstadtwald von Clamart und Meudon« mit dem »kleinen Wirtshaus am Rand«, die für ihn nachträglich zum »Hauptort der Dauer« (GD 43f.) wurde. Nach den Salzburger Jahren kaufte Handke in Chaville, einem ganz in der Nähe von Clamart und Meudon gelegenen Ort, ein aus gelbem Sandstein um die Jahrhundertwende gebautes Haus, das an die Rue Cécile-Dinant erinnert. (kp)

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